Schleswig-Holstein. Über 1000 Werke sind bei Europas größter Kunstausstellung bis zum 10. Oktober in riesigen Hallen und Parks zu erleben. Über die Motive.

„Is there anybody out there?“ – Die Frage, die Jo Kley mit seiner energetischen Granit-Skulptur in den 80.000 Quadratmeter großen Park schleudert, könnte treffender nicht sein. Lange hatte man das Gefühl, die Kunst und ihre Akteure seien in ihre Ateliers verbannt, ohne Kontakt zur Außenwelt. In Büdelsdorf, wo nach einjähriger, pandemiebedingter Zwangspause nun seit Juni wieder die Kunstwelt und Weltkunst zu Gast ist, ist der deutsche Bildhauer zum Glück nicht mehr allein: Mit weiteren 200 Kreativen bespielt er Europas größte Kunstmesse – in einer Zeit, die ansonsten eher von Absagen und Unwägbarkeiten bei Großveranstaltungen, nach wie vor, bestimmt ist.

Und es ist wieder dieses bombastische Wow, das die NordArt ihren Besucherinnen und Besuchern beschert (ganz besonders nach so langer Kultur-Abstinenz): Die fußballfeldartige Weite, die sich nicht nur draußen, sondern auch in der ehemaligen Eisengießerei der Carlshütte auf 22.000 Quadratmetern Fläche öffnet, ermöglicht es, den Skulpturen und Installationen, der Malerei und Fotografie in all ihren Spielarten sowie den Audio- und Video-Performances sich in ihrer ganzen Kraft zu entfalten.

Kunst in Büdelsdorf mit allen Sinnen spürbar

Man ist nicht nur Betrachter dieser rund 1000 Kunstwerke, sondern auch Teil des Ganzen, denn das Raumerleben, es ist mit allen Sinnen spürbar. Und ausdrücklich erwünscht: Einige Arbeiten sind begehbar wie etwa die beeindruckende Figurengruppe „Degree“ aus filigranem Stahldrahtgeflecht des mongolischen Künstlers Ochirbold Ayurzana, NordArt-Preisträger 2019.

„Wir sind einfach bei der Planung auf Risiko gegangen“, erzählt Inga Aru, Co-Kuratorin der Mega-Show. Das Konzept, das ursprünglich für 2020 vorgesehen war, wurde kurzerhand für dieses Jahr umgesetzt. Um Bewerbungen muss sich die NordArt ohnehin nicht mehr bemühen; die Zeiten, in denen Geschäftsführer und Gründer Wolfgang Gramm, selbst Künstler und Galerist, Atelier- und Messebesuche absolvierte, sind passé.

Künstler aus Vietnam bei NordArt stark vertreten

„Wir sind nach 22 Jahren so bekannt, dass wir auf ein internationales Netzwerk zurückgreifen können. Die meisten Kontakte laufen über Empfehlungen von Museen und Ministerien.“ So entsteht auch der jeweilige Länderschwerpunkt. In diesem Jahr präsentiert sich die Ukraine als selbstbewusster Mitspieler in der internationalen Szene. In einer weiteren Sonderausstellung wird unter dem Motto „Identität“ zeitgenössische Kunst aus Zentralasien gezeigt.

Besonders stark vertreten sind Künstler aus Vietnam, so versinnbildlicht Lien Nguyen Huong-Duong zum Beispiel in „Welle I“ die „Natur als wahre und ehrliche Freundin“. Sein Landsmann Luong Trung versucht in seinem Ölgemälde „Die Kirche“ ein Heimatgefühl zu konservieren, das er mit dem alten Stadtkern von Hanoi verbindet. Und auch Luu Tuyen malt in „Dong-son-Schatz 2“ gegen die Schnelllebigkeit der heutigen Welt an, die „Tradition, Vielfalt und Individualismus gefährden“.

Isoliertheit als wiederkehrendes Motiv

Ebenso wie das Verhältnis von Mensch und Natur und von Mensch und Technik ist auch die Kommunikationslosigkeit und Isoliertheit von Individuen wiederkehrendes Motiv. In dem Ölgemälde „Im Gedankenraum eingesperrt“ der russischen Malerin Anastasija Bikovas sehen wir einen sich vor Verzweiflung krümmenden Körper; Raluca Caragea aus Rumänien zeigt in der Fotografie „Traumfänger“ eine Frau, die durch rote Bänder zum Betrachter abgesperrt ist – eine Metapher zu Grenzzäunen.

Die aus dem Teich schauenden Frauenbeine sind ein Klassiker der NordArt-Ausstellung in Büdelsdorf.
Die aus dem Teich schauenden Frauenbeine sind ein Klassiker der NordArt-Ausstellung in Büdelsdorf. © Jörg Wohlfromm | Unbekannt

Doch auch das Menschen Verbindende wird in der Ausstellung thematisiert, etwa in Gleb Dusavitskiys fünf Mal fünf Meter großen Edelstahl-Giraffen mit dem Titel „Liebe“ oder in den schwebenden Frauen-Skulpturen der tschechischen Künstlerin Veronika Psotková „Zusammen – In der Strömung“. Es ist die Suche nach dem Sinn des Daseins, vielleicht auch nach einer Ersatz-Religion, die aus vielen Arbeiten spricht. In ihrer Kunstrasen-Installation mit Pflanze „Tag 1“ drückt die Mongolin Eukhnomin Khundmaa ihre „Sehnsucht nach einem Moment des Friedens“ aus.

Besuch der NordArt in Schleswig-Holstein erfordert Zeit

Den Rekord von 100.000 Besuchern aus dem Jahr 2019 wird man in diesem Jahr nicht erreichen. Zwischen 600 und 900 Gäste kämen täglich in die Ausstellung, so Inga Aru, „damit sind wir zufrieden.“ Man kann nur von Glück sagen, dass die Zeitfenster-Regelung vom Juni mittlerweile aufgehoben wurde, denn mit einem halben Tag ist die NordArt nicht ansatzweise zu bewältigen.

Lesen Sie auch:

Vielmehr ist es notwendiges Prinzip, sich von Werk zu Werk treiben zu lassen, zwischendurch rauszugehen, durchzuatmen, sich zu erfrischen und bei einem Snack zu stärken, um dann wieder den Kulturspeicher randvoll aufzufüllen mit Gedanken und Geschichten, Farben und Formen und dem Sich-Verständigen über den Zustand der Welt.

NordArt bietet Querschnitt von Kunst-Strömungen

Wer sich davon überfordert oder überreizt fühlt, dem empfiehlt Wolfgang Gramm eine Führung. Ansonsten versichert er, „findet jeder seine Geschichte, seinen Film – garantiert mit Happy End.“ Denn nichts anderes will die NordArt bieten: einen möglichst breiten Querschnitt aus gegenwärtigen Strömungen und Stilen – für jeden Geschmack etwas.

Das bedeutet nicht unbedingt Avantgarde; viele Arbeiten sind im Laufe der vergangenen Jahre entstanden. Und auch den Themen Virtual Reality oder Datenkunst öffnet sich die Mammut-Schau nur zaghaft. Dennoch glaubt Gramm fest daran, dass die NordArt „noch lange bestehen wird. Am Ende ist es das von Menschen für Menschen gemachte Kunstwerk, das zählt, seine Einzigartigkeit.“

„NordArt – Internationale Kunstausstellung“ bis 10.10., Kunstwerk Carlshütte, Vorwerksallee, 24782 Büdelsdorf, geöffnet Di-So 11.00-19.00, Tageskarte 18,50/16,- (ermäßigt), in den Hallen gilt Maskenpflicht, www.nordart.de