Hamburg. Am Sonntag hat „Nabucco“ Premiere an der Staatsoper. Regisseur Kirill Serebrennikov ist wegen Betrugsvorwürfen im Hausarrest.
„Alle sind da, außer dem Regisseur…“, hatte Intendant Georges Delnon gesagt. Bei der Präsentation der nächsten Staatsopern-Spielzeit hatte er von der nächsten Neuproduktion in dieser Saison berichtet, die viel mehr sein wird als nur eine weitere Abendveranstaltung, nach der das Publikum mehr oder weniger fröhlich nach Hause geht. Es klang bei Delnon fast, als hätte da nur jemand mal eben seinen Flieger verpasst.
Doch so harmlos alltäglich ist es nun ganz und gar nicht. Ein Stück zu inszenieren, wenn der Regisseur in 2000 Kilometer Entfernung seit dem 7. November im Hausarrest sitzt, das ist ein Ausnahmezustand, den man keinem Opernhaus wünscht. Kirill Serebrennikov ist in Putins Russland angeklagt, umgerechnet rund 1,8 Millionen Euro Subventionen veruntreut zu haben. Unter anderem ging es um eine angeblich nie passierte „Sommernachtstraum“-Inszenierung. Tatsächlich aber gab es über ein Dutzend Vorstellungen in Moskau, dazu Gastspiele in Paris und Riga. Keine Kunst, das alles nachzuprüfen. „Die Worte verstehe ich“, hatte Serebrennikov nach der Verlesung der Anklage gesagt, „aber den Sinn kann ich nicht begreifen.“
Es gab T-Shirts mit „#freekirill“-Aufdruck
Es gab internationalen Protest, unter anderem bei den Filmfestspielen in Cannes bei der Premiere des Films „Leto“. Putin ließ dort ausrichten, dass er gern etwas unternommen hätte, um Serebrennikovs Anwesenheit zu ermöglichen. Doch der habe Probleme mit der russischen Justiz, „und diese Gerichte sind ja unabhängig“. Es gab T-Shirts mit „#freekirill“-Aufdruck bei Aufführungen, die ohne ihn stattfanden, es gab eine Online-Petition, die über 54.000 Menschen unterzeichneten.
Eine Regie-Arbeit von Serebrennikov wurde vor wenigen Wochen bei den Lessing-Tagen im Thalia gezeigt, das Filmfest Hamburg hatte „Leto“ gebracht.
Konkret geändert hat sich deswegen: nichts.
An diesem Sonntag ist Premiere
Zwei Stunden Freigang pro Tag. Kein direkter Internet-Zugang. Dazu diese konstruierte Klage am Hals. Schwer, unter solchen Umständen nicht komplett zu verzweifeln. Doch die Hamburger Oper wollte nicht aufgeben. Kirill Serebennikov, offen schwul lebend, künstlerischer Leiter des Gogol Center und bei den Mächtigen in Moskau in Ungnade gestürzt, wollte nicht aufgeben. Und nun arrangiert man sich hier wie dort damit, dass Ideen zu Verdis „Nabucco“ zwischen einer Probebühne an der Dammtorstraße und einer 33-Quadratmeter-Wohnung in Moskau pendeln, wo Serebrennikov das Ende seines Schauprozesses abwarten muss. „In dieser Situation kann ich ihn nicht fallen lassen“, hatte Delnon seine Solidarität erklärt, bevor die Proben begannen. An diesem Sonntag ist Premiere.
„Nabucco“ also, ausgerechnet. Jene Verdi-Oper,1841 komponiert, bei der alle sofort an den Gefangenenchor denken. „Flieg, Gedanke, auf goldenen Flügeln“, singt der in Babylonien gefangene Chor der Hebräer im alttestamentarischen Drama. 2019 werden USB-Sticks verschickt oder Dateien gemailt. Das macht die Sache mit den unfreien Gedanken schneller, aber den Umgang mit ihnen nicht einfacher.
Sichtbar bleiben hilft
Den größten Teil des „Nabucco“-Konzepts gibt es schon seit langem. Serebrennikov hatte detaillierte Aufzeichnungen gemacht, was er wie wo von wem in seiner Version von „Nabucco“ umgesetzt haben möchte. Seine Augen, seine Ohren, sein Hirn und sein Herz - all das muss nun sein Regie-Mitarbeiter Evgeny Kulagin sein, wie vor einigen Monaten bei einer Inszenierung von Mozarts „Così fan tutte“ in Zürich. Auch kein einfaches Stück, aber längst keine so symbolische Angelegenheit wie dieser Verdi. „Es ist genauso sein Kind wie mein Kind, das ist wie ein Tandem“, sagt der Ideen-Choreograph Kulagin. Mehr Probenzeit als normal hat er wegen der besonderen Umstände nicht. „Jedes Detail, jede Note, jeder Takt sind schon markiert. Veränderungen gibt es hier nur in den Nuancen – Drehungen, an denen wir arbeiten, so etwas.“
Vor Probenbeginn hatte Kulagin sich Zeit für ein Gespräch genommen und schon die Antwort auf die erste Frage, die nach dem Stand der Dinge, zeigt, wie heikel die Lage ist und wie irre diese Arbeitsweise. Ein neues Gutachten sei in Arbeit, nach inzwischen vier Monaten Prozess, erzählte er, es soll offenbar klären, wie konkret strafbar eigentlich ist, was man dem angeblichen Subventionsbetrüger Serebrennikov vorwirft. „Wir legen sehr große Hoffnung in diese Expertise“, sagt Kulagin. Für ihn ist klar: kein Einknicken, einfach weitermachen, keine Furcht vor Konsequenzen. Sichtbar bleiben hilft. „Ich habe vor nichts Angst. Angst essen Seele auf“, übersetzt Swetlana Boos, während Kulagin ihr entschlossen zusieht. Genau das hat er in den letzten Monaten öfter gesagt.
Noch ist alles nur ein Bilderrätsel
Bei der Begegnung mit Kunagin am Regietisch sieht alles aus wie immer bei Theaterproben in diesem Stadium des noch zu sortierenden Durcheinanders: Notizen, Kaffeebecher, Noten, ein Pult für den Dirigenten Paolo Carignani, von dem aus er das Ensemble durch die Noten lotst. Daneben ein Flügel für den Korrepetitor, der das Orchester zu ersetzen hat, bis sich alle auf der Opernbühne treffen. Die Probebühne selbst: die grob zusammengezimmerte Andeutung eines modernen Büros, nur das Nötigste. Ein Rednerpult steht dort, eine Deutschland-Fahne (mit Niedersachsen-Wappen) neben einem Bürokraten-Schreibtisch, bunte Klebeband-Positionsmarkierungen auf dem abgeschabten Holzboden. Am Rand des Geschehens parkt, warum auch immer, ein Krankenhausbett; in der Requisitenecke bei den Kostümen steht, warum auch immer, ein Servierwagen mit liebevoll gefälschten Schnittchen aus bemaltem Kunststoff. Noch ist alles nur ein Bilderrätsel. Puzzle-Teile, die sich erst zu einer Kunst-Welt fügen sollen. Der, der die Auflösung im Kopf hat, sitzt hinter unsichtbaren Gittern.
„Natürlich sind das schreckliche Bedingungen“, hatte Kulagin wenige Minuten zuvor erklärt. „Wir versuchen, es mit einem Lächeln abzutun, aber das ist nicht so. In der Oper ist es möglich, so zu arbeiten. Es gibt eine Art höhere Mathematik. Die Sänger wissen schon, was sie innerhalb ihrer Noten zu tun haben. Die Aufgabe der Regie ist es, dieser Rolle Luft einzuhauchen und Anstöße zu geben. Im Sprechtheater lässt sich der direkte Kontakt zwischen Schauspieler und Regisseur nicht so einfach ersetzen.“ Glück im Unglück also, das hier, könnte man glauben.
Kulagin motiviert freundlich auf Englisch
Bevor es losgeht, nehmen alle, wie im Konfirmandenunterricht brav aufgereiht, vor einem aufgeklappten MacBook Platz. Frontalunterricht mit Dolmetscherin. Auf dem Bildschirm taucht Serebrennikov auf, der Ton läuft über große Lautsprecher. Heute ist eine Schlüsselszene dran, übersetzt Boos, weil der Regisseur leibhaftig es ja nicht darf. Zweiter Akt, zweite Szene: Nabucco befördert sich vom König zu Gott. Boos portioniert die Erklärung. Die Pausentaste am Rechner gibt das Tempo vor, wenn Serebrennikov spricht, singt, Gesten andeutet. Ganz Ohr ist neben Kulagin auch der Dramaturg Sergio Morabito. Beide blättern in Aufzeichnungen, verfolgen, was Serebrennikov nett vorschlägt. Überhaupt sind alle sehr nett zueinander.
Im Original spielt „Nabucco“ im Jahr 586 vor Christus, doch hier soll der Zugang ins Stück alles andere als historisch sein. „Wir verlagern die Geschichte in die heutige Zeit. Dreh- und Angelpunkt wird die Frage nach den Migrationsbewegungen in der Welt sein“, erklärt Kulagin; als die Rede auf die berühmteste Stelle der Oper kommt, legt er noch einige Denkanstöße nach. „Dieser Gefangenenchor, das ist für uns der Chor der Migranten, der Geflüchteten, die ihr Vaterland verlieren und die jetzt versuchen, ihren Platz in der Welt zu finden. Nabucco vertritt bei uns eine radikale Position gegenüber den Migranten.“
Weil die Situation so speziell ist, hat die Staatsoper einen Probe-Besuch erlaubt, der selbst fast eine Art Inszenierung ist: Kameras, Mikrofone, Notizblöcke, Smartphones. Zuschauer, während noch nichts fertig ist. Normales Arbeiten mit dem Material sähe anders aus, nun machen alle das Beste daraus. Kulagin motiviert freundlich auf Englisch: Lasst es uns einfühlsam, genau, psychologisch und glaubhaft machen, aber das ordnet er nicht an, er bittet eher. Alles sehr basisdemokratisch hier.
Aktueller geht es kaum
Von einer zentralen Idee Serebrennikovs ist in dieser Probenphase nichts zu sehen: Er verlegt einen Teil der Handlung in den New Yorker Sitzungssaal des UN-Sicherheitsrats. „Die ganze Geschichte spielt sich um die Migranten herum ab. Und auf welcher Bühne werden solche Fragen tatsächlich heute diskutiert? Das EU-Parlament, die UN, das sind diese Orte.“ Im Gefangenenchor lässt Verdi „O mia patria sì bella e perduta“ singen. „O mein Vaterland, du schönes, verlorenes“. Aktueller geht es kaum.
Kann ein „Nabucco“ unter diesen Ausnahme-Umständen ein nur unterhaltsamer Opernabend sein? Garantiert nicht, kontert Kulagin. „Unsere Aufgabe ist es, die gesamten zweieinhalb Stunden interessant, aktiv, cinematographisch, präzise und aktuell zu machen. Wir stellen Fragen. Uns interessiert der spezielle Klang dieser Oper unter den heutigen Umständen. Sogar diesen Hit, diese drei Minuten Chor, versuchen wir als künstlerischen Akt darzustellen, und auch der wirft Fragen auf.“
Ist das Kunst, ist das Widerstand?
Wie immer bei Proben wird es kaum laut, denn fast nichts wird ausgesungen. Schongang, Kräfte einteilen. Wichtiger ist hier das Wo auf der Bühne, nicht das Wie der Musik. Insbesondere Dimitri Platanias, ein kompakter Heldenbariton, hält sich anfangs stark zurück, hin und wieder hört man nur ein sanftes Hüsteln von ihm. Doch von einem Moment zum nächsten dreht er auf, wenn er als Nabucco sein „Non son più re, son dio!“ in eine vor ihm stehende Video-Kamera bellt, als klare Ansage, wer von nun an das Sagen haben will. Bleibt abzuwarten, ob diese Szene so bleibt.
Während hier, da und dort justiert wird, ist Kulagin ein extrem aufmerksamer Beobachter hinter dem Regietisch. Große, fast staunende Augen, wie ein Koch, der zusieht, wie gerade das neue Soufflee-Rezept gelingt. Als zum Ende der Probe die gesamte Szene einmal durchläuft, beginnt der Zauber Oper zu wirken, trotz der Rumpel-Kulissen, trotz der neugierigen Kameras und der Mikrophone. Ist das Kunst, ist das Widerstand, was sie hier entwerfen, ist es beides, oder kann man all das hier und so ohnehin nicht voneinander trennen? „Ich hab‘ eine gute Antwort darauf“, hatte Kulagin geantwortet. „Unsere Barrikaden, unser Widerstand, das ist die Bühne. Wir führen diese Auseinandersetzung mit dieser Bühne.“ Und als die Probe vorbei ist, bevor alle aus Verdis Fantasie in die Wirklichkeit des Hamburger Feierabends wechseln, entlässt sie Kulagin mit einem „Vielen Dank!“ Wie immer der Premieren-Abend laufen wird, der Regisseur Kirill Serebrennikov wird das alles – wenn nicht noch ein Wunder geschieht – nicht miterleben dürfen. „Darin liegt ja der Schmerz“, hatte Kulagin gesagt, „dass ein Künstler bei dieser Geburt dabei sein sollte.“ Doch genau das inszenieren nach wie vor andere.