Hamburg. Kirill Serebrennikov ist in Russland zu Hausarrest verurteilt worden. In Hamburg soll trotzdem sein „Nabucco“ zu sehen sein.

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Franz Kafka beschrieb diesen Sturz aus der „Welt“, mit dem sein Roman „Der Prozess“ beginnt, vor mehr als 100 Jahren. Als der russische, schwule, jüdische Regisseur Kirill Serebrennikov am 7. November 2018 seinen ersten Prozesstag in Saal 443 des Moskauer Meschtschtanski-Stadtbezirksgerichts hatte, sagte er, nachdem man ihm die Anklage vorgelesen hatte: „Die Worte verstehe ich, aber den Sinn kann ich nicht begreifen.“

Serebrennikov und drei leitende Mitarbeiter sollen Subventionsgelder für ihre Produktionsfirma veruntreut haben, knapp zwei Millionen Euro, heißt es, ihm drohen bis zu zehn Jahre Haft. Die mit diesem Geld zu finanzierenden Stücke hatten Zehntausende Zuschauer und wurden begeistert rezensiert. Egal, heißt es. Seit August 2017 ist Serebrennikov, als in Ungnade gefallenes abschreckendes Beispiel, unter Hausarrest gestellt. 33-Quadratmeter-Wohnung, zwei Stunden Ausgang unter Bewachung täglich, nur handverlesene Kontakte. Seinen Kino-Film „Leto“ über russische Rockmusiker in den 1980ern, der zunächst in Cannes und danach beim Hamburger Filmfest gezeigt wurde, hatte Serebrennikov in seiner Wohn-Zelle geschnitten. Als seine Mutter starb, durfte er nicht zu ihr. PC ja, kein Internet-Zugang, keine Mails.

Und genau jetzt, genau an dieser Stelle, 2000 Kilometer Luftline von Moskau entfernt, kommt die Hamburger Staatsoper ins Spiel um Macht und Ohnmacht, mit einer Oper über genau diese Themen. Denn nachdem Anfang November Mozarts „Così fan tutte“ als Regie-Arbeit von Serebrennikov ihre Premiere an der Oper Zürich erlebte, laufen nun hinter den Kulissen an der Dammtorstraße die Vorbereitungen für eine ebenso spezielle Regie-Arbeit an: Serebrennikov, seiner Freiheit beraubt und seine künstlerische Freiheit verteidigend, soll Verdis Oper „Nabucco“ inszenieren, die mit dem berühmten Gefangenenchor, ausgerechnet. Premiere 10. März 2019, das Ende des Hausarrests ist bislang für April 2019 angekündigt.

Delnon ist optimistisch

Hamburgs Opern-Intendant Georges Delnon war bei der Premiere in Zürich, auf seinem Smartphone hat er einen Schnappschuss aus dem Parkett, von diesem Moment, in dem die Mitwirkenden, wie schon nach einer „Hänsel und Gretel“-Premiere in Stuttgart, in T-Shirts mit „#FreeKirill“-Aufdruck vor den Vorhang kamen. Hamburg soll wie Zürich werden, nur mit anderem Stück, erklärt Delnon. Wenn Ende Januar die Proben beginnen, wird – wie in Zürich - Serebrennikovs Ko-Regisseur Evgeny Kulagin dabei sein und umsetzen, was der Eingeschlossene, Szene für Szene, Idee für Idee, im fertigen Regie-Buch festgehalten hat. Die Video-Aufnahmen von wichtigen Weichenstellungen bei diesen Proben werden per USB-Stick zu Serebrennikovs Anwalt gehen, von dem zu ihm, der wird sie sich über Nacht ansehen, um am nächsten Tag mit seinen Ansichten zu antworten. Einfach einen Laptop aufklappen und die Proben über Skype nach Moskau übertragen? Geht nicht. Verboten. Kafka.

Der Züricher Intendant Andreas Homoki hatte zunächst noch eine stille Reserve, das Ausweichen auf eine andere Produktion, sollte die Arbeit mit einem körperlich abwesenden Regisseur zu schiefgehen. Die Erfahrung zeigte, es ging, und es ging wohl auch erstaunlich gut. Deswegen ist Delnon optimistisch: „Ich hatte früher auch einen Plan B. Aber wenn eine Theaterdynamik – Ausstattung und so weiter – erst einmal in Gang kommt, verzichtet man aus voller Überzeugung auf Plan B.“

2015, da war Serebrennikov noch ein freier Mann, hatte Delnon nach einer „Salome“-Inszenierung in Stuttgart den Russen kontaktiert, weil er von der Regie so begeistert war. „Ein außerordentlicher Künstler. Er hat ein besonders scharfes Auge für unsere Gesellschaft und wie sie funktioniert“, beschreibt er seine Begeisterung. „Für mich ist er einer, der seine Prinzipien nicht aufgibt. Er bleibt ganz konsequent bei seiner Sprache.“

Parabel aufs Hier und Jetzt

Den Vorschlag „Nabucco“ fand Serebrennikov interessant, im Frühjahr 2017, da war er noch ein freier Mann, kam er nach Hamburg. Alles lief wie immer in der Branche, die drei Jahre Vorlauf hat. Bis es nicht mehr lief. Jetzt liegt eine Mappe mit Bühnenentwürfen auf Delnons Bürotisch; was zu sehen ist, ist ein Zitat des Raums, in dem die UN-Vollversammlung in New York stattfindet. „Das ist sicher eine Metapher für die aktuelle Situation“, sagt Delnon dazu. „Auf der einen Seite die, die entscheiden und die Macht haben und teilweise auch versuchen Lösungen zu finden.

Serebrennikovs Mitstreiter Ilya Stewart, Roman Bilyk, Irina Starshenbaum, Teo Yoo, Festival-Chef Thierry Fremaux und Co-Produzent Charles-Evrard Tchekhoff auf dem roten Teppich bei der Premiere des Films „Leto“ im Mai dieses Jahres in Cannes.
Serebrennikovs Mitstreiter Ilya Stewart, Roman Bilyk, Irina Starshenbaum, Teo Yoo, Festival-Chef Thierry Fremaux und Co-Produzent Charles-Evrard Tchekhoff auf dem roten Teppich bei der Premiere des Films „Leto“ im Mai dieses Jahres in Cannes. © picture alliance

Und auf der anderen Seite: vertriebene Menschen als eine Art Spielball.“ Die alttestamentarische Geschichte über die Hebräer, die aus der Knechtschaft der Babylonier fliehen wollen, wird zu einer Parabel aufs Hier und Jetzt. „Der Gefangenenchor ist, klar, für Serebrennikov auch ein Zen­trum des Stücks“, sagt Delnon. „Es geht um alle Vertriebenen, ob sie nun aus Mittelamerika in die USA unterwegs sind oder aus Afrika über das Mittelmeer zu uns kommen. Das ist heute das brennendste Thema: der Exodus, die verlorene Heimat.“

Umfangreiches Rahmenprogramm

Außerdem sagt Delnon: „Eine Oper als öffentliche Kulturinstitution hat auch die Aufgabe, ich würde behaupten die Pflicht, gesellschaftliche Widersprüche offen und offensiv zu benennen und für die Werte, auf der diese Gesellschaft fußt, in deutlicher Geste einzustehen.“

Die Vermutung, der Blick des Regisseurs auf den Opernstoff und sein Thema könnte durch die Bestürzung über die Situation des Regisseurs verstellt werden, teilt Delnon jedenfalls nicht. Das sei schon in Zürich nicht passiert. „Es gab eine Inszenierung, die zur Diskussion gestellt wurde. Da macht das Publikum sehr wohl einen Unterschied.“ Der Umstand des Politikums, so ungerecht er auch ist, dürfe nicht im Vordergrund stehen. „Im Vordergrund muss stehen, dass Serebrennikov ein großartiger Künstler ist. In dieser Situation kann ich ihn unmöglich fallen lassen. Und es ist wichtig, dass er weiterarbeitet. Ideen, die Tausende von Kilometern reisen und dann konkret realisiert werden – das gefällt mir.“

Unkommentiert soll sie nicht über seine Bühne gehen, das ist jetzt schon klar. In Zürich wurden im Foyer Texttafeln über Serebrennikovs Schicksal angebracht. Delnon will Ähnliches bieten, und dazu ein umfangreiches Rahmenprogramm als vielschichtigen Kommentar zu diesem Prozess: „Ich hoffe insgeheim ja, dass die unermüdliche Berichterstattung hier über Serebrennikov den Verantwortlichen in Moskau so sehr schadet und sie nervt, dass sie ihn freilassen.“