Hamburg. Das Theater avancierte zu Varieté von Weltniveau. Ein Text über die Geschichte des Hauses – und seine verheißungsvolle Zukunft.
Der Laden brummt. Tür auf, Tür zu, Kellnerinnen rasen durch den Zuschauerraum, hier ein Kännchen Kaffee, dort eine Schokoladentorte, ein Bier zu Tisch 38, schnell, schnell. Jemand sucht seinen Platz, jemand will zur Toilette, jemand hat einen Bekannten erspäht und drängelt sich durch die Reihen. Wie im Bienenstock. Es ist Sonnabend, Anfang Februar, ein Tag, an dem sich das Hamburger Wetter noch nicht entscheiden kann, ob es winterlich schmuddelt oder ob schon erste Frühlingsluft durch St. Georg weht. Und das Hansa-Theater ist ausverkauft. Zur nachmittäglichen Repertoire-Vorstellung.
Eine gute Auslastung ist die Regel. Trotz Nachmittags, trotz Frühlings, auch trotz der Preise. Ja, die Preise sind gepfeffert, das geben selbst die Beteiligten zu. „Billig is’ was anderes“, kommentiert Conférencier Horst Schroth die Politik des Hauses und stellt damit auch klar: Das Hansa-Theater will gar nicht billig sein. Das, was man hier geboten bekommt, ist wertig. Zwischen 40 und 70 Euro pro Nase, je nach Preiskategorie und Besuchstag, das ist ein heftiger Posten für zweieinhalb Stunden Unterhaltung. Aber diese Unterhaltung ist kein 08/15-Entertainment, sondern hochklassige Artistik, begleitet von einer sechsköpfigen Liveband um Saxofonist Andreas Böther.
Das Bühnenprogramm verantworten Ulrich Waller und Thomas Collien vom St. Pauli Theater, die Gastronomie Rüdiger und Dirk Kowalke vom Fischereihafen Restaurant, einer der besten Adressen traditioneller Hamburger Küche. So was kostet. Konkret: 17,90 für einen „Theaterteller“. Der Theaterteller ist das Stammessen im Hansa-Theater, Schinken mit Melone, geräucherter Lachs, Bayerischer Wurstsalat, Salami, Käsecreme mit Radieschen und Schnittlauch. Passt das zusammen? Egal. Wichtig ist: Der Theaterteller als Angebot vom Ende des 19. Jahrhunderts ist ein Original. Und als solches ein Paradebeispiel für das, was den Reiz dieses Hauses ausmacht.
Die schillernde Geschichte des Hansa-Theaters
Seit 125 Jahren existiert das Hansa-Theater am Steindamm. Gegründet wurde es am 5. März 1894 vom Bierbrauer Paul Wilhelm Grell, wobei der nicht in erster Linie an Kunst interessiert war, auch nicht an Unterhaltung – er wollte vor allem einen Ort haben, um sein Heider Export an den Mann zu bringen. Bald aber wurde der Spielbetrieb professionalisiert, der Saal auf sagenhafte 1500 Plätze erweitert, die Darbietungen von der Bier-Begleitung ins Zentrum des Abends gerückt. Ab 1900 hatte sich der Steindamm zum großstädtischen Boulevard entwickelt, der zum Flanieren einlud, außerdem blühte die Varietékultur in der Hafenstadt Hamburg noch ein wenig bunter als anderswo.
In der Zwischenkriegszeit übernahm Grells Sohn Kurt das Haus, er musste ab 1933 die Gleichschaltung des kulturellen Lebens über sich ergehen lassen. Jüdischstämmige Artisten erhielten Berufsverbot, ein Großteil der Kulturelite emigrierte. Und im Juli 1943, während der „Operation Gomorrha“, wurde St. Georg bombardiert – ein Treffer zerstörte das Theatergebäude bis auf die Fassade.
Grell allerdings eröffnete nur wenig später ein Café in den Ruinen des Hauses und erhielt bald nach der Befreiung, am 1. August 1945, die Genehmigung zur Wiederaufnahme des Spielbetriebs. Varieté galt als politisch harmlose Kunst, zudem war der Theaterchef unbelastet durch die NS-Zeit gekommen. 1953 wurde das Gebäude auf den neuesten Stand gebracht, es fasste jetzt knapp 500 Besucher, die an kleinen Tischchen saßen und einen Kellner elektronisch herbeirufen konnten – es entstand die halb plüschige, halb hochmoderne Ausstattung, die das Haus bis heute prägt.
Bisschen erotisch, bisschen artistisch, bisschen schräg
Grells Witwe Telse Meyer-Grell brachte das Hansa-Theater mit Ächzen und Würgen durch die Zeit des Varieté-Sterbens ab den 1960ern, in immer stärkerer Konkurrenz zum aufkommenden Fernsehen. Auch setzte in den 80er-Jahren der Niedergang St. Georgs ein: Auf dem Steindamm etablierte sich eine offene Drogenszene, Gewalt und Prostitution waren alltäglich, die Lust zum Flanieren war einem angesichts des unübersehbaren Elends vergangen, ebenso wie die Lust auf leicht-frivole Varietékultur. Ende 2001 musste das Hansa-Theater – wie zuvor schon andere Revuetheater der Republik, darunter der Namensvetter in Berlin-Moabit – schließen, die Einnahmen deckten den Betrieb nicht mehr.
Der 31. Dezember 2001 war entsprechend ein trauriges Silvester für das Haus. Das Hansa-Theater war nicht nur Theater, sondern vor und auf der Bühne auch Abbild von Gesellschaft und Unterhaltungskunst seiner Zeit. Auf der Bühne: Entfesselungskünstler Harry Houdini, Clown Charlie Rivel, Mitte der 60er-Jahre zwei Nachwuchsartisten namens Siegfried und Roy. Im Publikum: Uwe Seeler, Helmut Schmidt, Schah Reza Pahlavi. Das Programm: bisschen erotisch, bisschen artistisch, bisschen schräg. Bisschen politisch auch: Nicht nur Tänzerin Josephine Baker begeisterte hier mit freizügigen Performances, nicht nur Clown Grock verzauberte das Publikum, auch der ultralinke Kabarettist Wolfgang Neuss machte im Hansa-Theater nach dem Krieg erste Bühnenerfahrungen.
Immerhin, Telse Meyer-Grell ließ das Haus nicht verkommen und konservierte den Zuschauerraum mit all seinem 50er-Jahre-Charme. Sodass das Hansa-Theater 2009 wiedereröffnet werden konnte, zunächst temporär auf Initiative des Hamburger Abendblatts, das zum eigenen 60. Geburtstag 60 Tage lang das Varieté wiederaufleben lassen wollte. Diese erste Saison unter den neuen Leitern Ulrich Waller und Thomas Collien erwies sich allerdings als durchschlagender Erfolg, weswegen seither in den Wintermonaten vor vollem Haus gespielt wird, im Laufe der Jahre unter anderem mit dem schwedischen Einradfahrer Eric Ivarsson, der französischen Jongleuse Françoise Rochais und dem chinesischen Seiltänzer Cong Tian.
Was man allerdings bei solch klingenden Namen nicht mehr findet: einen scharfen politischen Satiriker wie Wolfgang Neuss. Zumindest am Sonnabend des Jahres 2019 hat sich die Politik in eine Schrumpfform verwandelt, die darin besteht, dass Conférencier Horst Schroth in einer Ansage eher halblustig über gendergerechte Sprache lästert: „Hannover wird bald in Hannovsie umbenannt, Mannheim in Frauheim.“ Haha. Muss man das gut finden? Nein, muss man natürlich nicht. Das ist ja das Schöne am Varieté: Das eine gefällt einem, das andere nicht, und wenn der erste Witz im Rohr krepiert, dann zündet der nächste bestimmt. Also: räuspern, Freude auf die nächste Nummer. Auf den belgischen Schattenspieler Hans Davis.
Brücke zwischen Kunst und Entertainment
Treffen mit Ulrich Waller und Thomas Collien. Die Betreiber des St. Pauli Theaters schlagen schon an ihrem Stammhaus regelmäßig die Brücke zwischen Kunst und Entertainment, darüber hinaus sind sie aber auch biografisch prädestiniert für die Aufgabe, das Programm am Hansa-Theater zu gestalten: Collien stammt aus einer Zirkusfamilie, Waller kommt vom Polittheater ohne Angst vor Unterhaltung. „Als wir das Hansa übernommen haben, wussten wir, dass wir das Thema neu denken müssen“, erzählt Waller. „Die Varietés sind auch deswegen gestorben, weil sie irgendwie den Anschluss an zeitgemäße Erzählformen verpasst hatten: Artistik und Zirkus gab es auch im Fernsehen, die Präsentation wirkte angestaubt.“ Also: raus mit den Tiernummern. Raus mit dem Playback. Rein mit der Band. Rein mit dem Prinzip Conférencier. Was, bei Licht betrachtet, ein „Zurück zu den Wurzeln“ ist, zum Varieté von 1894.
Waller hatte den Erfolg des Tigerpalastes in Frankfurt vor Augen. Der wurde 1988 gegründet von den wie Waller linkspolitisch engagierten Theatermachern Johnny Klinke, Margareta Dillinger und Matthias Beltz, und Klinke war auch beratend bei der Wiedereröffnung des Hansa-Theaters mit dabei. Moment – wenn solche Leute hier beteiligt waren, weswegen ist dann die Politik aus dem Hansa-Varietéprogramm fast vollkommen verschwunden? Ist sie gar nicht, stellen Waller und Collien unisono klar. „Das hängt total davon ab, wer moderiert“, erklärt Waller. „Bei einem Gesellschaftssatiriker wie Horst Schroth gibt es sicher weniger tagespolitische Aspekte, aber wenn zum Beispiel Georg Schramm oder Matthias Deutschmann moderieren, dann wird es deutlich schärfer.“ Und Collien ergänzt: „Das sind dann die Abende, zu denen wir eine ganze Menge Zuschriften bekommen.“ Varieté kann seinem Publikum auch mit Lust auf die Füße treten.
Der Conférencier jedenfalls ist wichtig. Während einer Saison bleibt zwar das Programm dasselbe, aktuell gastieren etwa der mazedonische Marionettenspieler Alex Mihajlovski, die Hamburger Zauberkünstlerin Alana und die russische Hula-Hoop-Tänzerin Yulia Rasshivkina („Also, ich könnt’ das nicht!“, kommentiert Schroth Rasshivkinas Tanz unter 55 rotierenden Reifen und macht mit diesem wirklich lustigen Spruch alles vorangegangene Gender-Gelästere ungeschehen). Die Moderatoren aber wechseln von Abend zu Abend. Neben Schroth, Schramm und Deutschmann sind so bekannte Namen wie Rolf Claussen, Marek Erhardt und Alfons mit dabei. „Das soll immer eine gewisse Überraschung sein, dass man erst am Eingang erfährt, wer heute der Gastgeber sein wird“, beschreibt Collien das Prinzip.
Was allerdings tatsächlich passé ist: die Nähe des Genres zur Halbwelt. Auch wenn der Steindamm immer noch ein hartes Pflaster ist, so ist doch die Show weitgehend familientauglich. „Och, wir haben schon noch manchmal Künstlerinnen, die eher weniger Kleidung tragen“, sagt Waller. Und im Übrigen sei auch das Sache der jeweiligen Moderatoren. Aber Collien bestätigt den Befund: „Wir wollen keine Sachen machen, die irgendwie sexistisch sind. Das wären nicht wir.“
Und Waller erinnert sich: „In den 90ern gab es gar keine echten Conférenciers, da gab es nur Witzeerzähler. Und was die für Witze rissen, das will man sich heute wirklich nicht mehr anhören.“ Stimmt schon: Bevor die Herrenwitze wieder die Bühne übernehmen, begnügt man sich dann doch lieber mit dem Familientauglichen. Zumal das Kostüm der russischen Schlangenfrau Maria Sarach wirklich sehr, sehr eng geschnitten ist. Schroth: „Ich weiß nicht, ob Sie das gemerkt haben, aber es gab da einen kaum spürbaren Hauch von Erotik!“ Verschämtes Kichern im Publikum.
Der plüschige Saal von 1953 ist auf lange Zeit gesichert
Wenn man mit Collien und Waller spricht, merkt man: Es geht bei ihrem Engagement fürs Hansa-Theater nicht um perfektes Entertainment, es geht darum, sich dem Kern der Kunst Varieté anzunähern, mit Versuchen, mit Spaß. Da hat dann Unperfektes auch seinen Platz, vielleicht gerade Unperfektes. Wenn Jongleur Claudius Specht seine Keulen durch die Luft wirbeln lässt, dann ist das beeindruckend.
Wenn die Keulen allerdings zu Boden fallen und Specht diesen Fehler mit viel Charme weglächelt, dann entsteht ein Zauber zwischen Künstler und Publikum. Ein Zauber, der dem Künstler bewusst ist. „Wenn er einmal die Keulen fallen lässt, dann war das inszeniert, ab zweimal nicht mehr“, grinst Waller. Der Artist beweist seine Kunst, indem er das Publikum dazu bringt, dass es sich gemeinsam mit ihm über seinen Fehler freut.
Am 5. März steht der eigentliche Geburtstag des Hansa-Theaters an. Wobei: The Show must go on – im Grunde wird das Programm dieser Jubiläumssaison gespielt, plus ein paar kleine Besonderheiten. Geht ja auch nicht anders, Starartisten sind mitten in der Saison ausgebucht. Und in Zukunft? Soll das Haus längerfristig bespielt werden, nicht mehr nur von Saison zu Saison, sondern ergänzt durch eigene Programme, Musiktheater, Kabarett, Comedy.
Eine große Hilfe dabei: Die unklare Immobiliensituation am längst nicht mehr verrufenen Steindamm hat sich geklärt. Außerdem wurde das Gebäude vergangenen April unter Denkmalschutz gestellt, der Theatersaal mit seiner prachtvoll-plüschigen Ausstattung aus dem Jahr 1953 kann jetzt nur noch in engen Grenzen angetastet werden. So etwas ist wichtig, falls die Aufwertung des Viertels so weitergeht wie bisher.
Noch ist der Steindamm eine migrantisch geprägte Gegend, mit Handyläden, türkischen Supermärkten, Sexshops, aber bald wird auch hier die Gentrifizierung St. Georgs die Immobilienpreise nach oben treiben. Und wo die Preise in die Höhe schießen, stört ein Theater irgendwann nur noch – aber was denkmalgeschützt ist, lässt sich nicht mehr so einfach gewinnbringend in Eigentumswohnungen umwandeln.
Planungssicherheit also ist gegeben. Aber was wird künstlerisch passieren? Haben die Macher womöglich schon Ideen? Vielleicht Moderationen auf Englisch, angesichts der Tatsache, dass Touristen zwar nicht die Mehrheit, aber doch einen relevanten Teil des Publikums ausmachen? Oder eine Rückkehr der Tiernummern? „Nee“, sagt Collien, „schon aus Gründen der politischen Korrektheit möchten wir das nicht."
Höchstens … „Also, mit Hunden könnte man es sich vorstellen“, hält sich Waller eine Hintertür auf. „Hunde haben da Spaß dran, wenn man mit ihnen was einstudiert. Und am tollsten wäre natürlich ein Hund, der einfach überhaupt nichts kann.“ Ein Hund, der nichts kann. Ein fertiges Rezept für gelungenes Varieté gibt es nicht. Aber lustige, spannende, schräge Ideen gibt es noch zuhauf.