Hamburg. Sexuelle Gewalt auf der Ballettbühne, inszeniert von John Neumeier. Aus dem grandiosen Ensemble ragte Anna Laudere heraus.

Still sitzt Anna Laudere als Blanche DuBois mit ihrem Koffer auf dem Bett. Gestrandet in der Psychiatrie nachdem Stanley, der Grobian-Mann ihrer Schwester Stella, sie vergewaltigt hat.

Tennessee Williams‘ „Endstation Sehnsucht“ hat nichts von seiner verstörenden Kraft verloren. Die Wiederaufnahme ist ein bemerkenswerter Auftakt der 51. Saison von John Neumeier als Intendant des Hamburg Balletts. Intim, sehr modern und radikal. Sie funktioniert mit feinem Expressionismus, Jazz getränktem Südstaatenflair, viel Düsternis und hoher Intensität des Ensembles, das nicht nur mit herausragendem Tanz, sondern auch mit Charakterdarstellung glänzt.

Hamburg Ballett: Überragende Wiederaufnahme von „Endstation Sehnsucht“

Dass die Reihen nicht bis auf den letzten Platz gefüllt sind, mag an der „Ersten Sinfonie“ von Alfred Schnittke liegen, die den zweiten Teil bestimmt, collagenartig, viele Stile vereinend – und durchaus fordernd. Aber bereits Sergej Prokofjews „Visions fugitives, op. 22“ geben Blanches innerem Realitätsverlust und der Tragik einer untergehenden Gesellschaft einen aufwühlenden Klang. Der Koffer der ehemaligen Südstaatenschönheit enthält so manche Erinnerung, die wie ein Gespenst aus dem Unterbewusstsein kriecht. Verflossene Liebhaber rollen unter ihrem Bett hervor, erklimmen und beturnen es. Sie stößt sie angewidert weg.

Szenenwechsel. Das Portal der prachtvollen Südstaatenvilla Belle Rêve erhebt sich im Hintergrund, ebenfalls kreiert von John Neumeier, der hier nicht nur die Choreografie und Inszenierung, sondern auch das Bühnenbild, die Kostüme und das Lichtkonzept verantwortet. Eine Hochzeitsgesellschaft wiegt und dreht sich davor, die Damen in eleganten pastellfarbenen Kleidern, die Herren in weißen Anzügen.

„Endstation Sehnsucht“: John Neumeier inszeniert starke, dunkle Bilder

Anna Lauderes grazil und ausdrucksstark sich bewegende Blanche trägt den Schleier der Braut. Doch zu ihrem Bräutigam Allan Gray, bewegend innerlich zerrissen getanzt von Jacopo Bellussi, gesellt sich bald ein von Lennard Giesenberg gegebener blonder Jüngling. In einem berührenden Pas de deux schieben sie einander, krümmen sich, strecken die Beine sehnsuchtsvoll aus. Ein Schuss erklingt und damit sind auch Blanches Ehe-Träume zerplatzt. Das Portal sinkt in sich zusammen. Türen stürzen ein. Starke, dunkle Bilder.

Im zweiten Teil in der von rasant rhythmischem Jazz und schwülem Begehren geprägten Stadt New Orleans landet Blanche in der kargen Wohnung ihrer Schwester Stella, die diese mit dem gewalttätigen Trinker Stanley Kowalski teilt. Mit athletischer Bettgymnastik geben Charlotte Larzelere und Matias Oberlin als Stella und Stanley Einblicke in ihr von Lust geprägtes Dasein.

Blanche, bei Anna Laudere eher berührende Sanftmut und Verletzlichkeit als Arroganz ausstrahlend, ist von Stanleys bestienhaftem, in Boxkämpfen antrainiertem Machismo abgestoßen. Eher mit eindrucksvoller Körperbeherrschung als mit platter Virilität gibt Oberlin den Unsympathen. Wenn er sich schließlich Blanche nähert und es zu Gewalt und Unterwerfung kommt, steigert Anna Laudere ihre feinsinnige Expressivität bis zum Äußersten. Eine absolute Glanzleistung der Ersten Solistin.

Das Thema der sexuellen Gewalt ist von trauriger Aktualität. In Neumeiers sehenswerter Choreografie wirkt es so radikal wie zeitlos.

„Endstation Sehnsucht“ weitere Vorstellungen 21.9., 19.30 Uhr, 22.9., 19.30 Uhr, 24.9., 19 Uhr, 12.10., 19.30 Uhr, 13.10., 19.30 Uhr, 11.7.2024, 19.30 Uhr, Hamburgische Staatsoper, Dammtorstraße 28, Karten unter T. 35 68 68; www.hamburgballett.de