Hamburg. Fast fünf Stunden Nijinsky-Gala in der Staatsoper: ein berührender, sehr langer Abend – der trotzdem ewig hätte weitergehen können.
Seit 50 Jahren leitet John Neumeier das Hamburg Ballett, in Hamburg, nein, weltweit prägt Neumeier mit bis dato rund 170 Balletten die Vorstellung, was Ballett sein kann. Aber in Erinnerung bleiben vor allem die großen Erfolge, „Matthäus-Passion“, „Othello“, „Nijinsky“, Meisterwerke, zweifellos. Aber es ist eine interessante Entscheidung, die diesjährige, 48. Nijinsky-Gala, den feierlichen Abschluss der Hamburger Balletttage sowie der Saison an der Staatsoper, unter das Motto „Vergessene Tänze“ zu stellen – Ballette, die nicht zum engeren Kanon des Neumeier-Werks zählen.
Kein „Romeo und Julia“ also, keine „Kameliendame – nicht schlimm, man konnte solche Hits schon während der vorangegangenen Balletttage sowie vor eineinhalb Wochen bei der Jubiläumsgala sehen. Stattdessen gibt es Abseitiges, Ungewohntes, Arbeiten, die vielleicht zu Unrecht ein wenig in Vergessenheit geraten sind. Und auch solche, bei denen es ein bisschen nachvollziehbar ist, dass sie es nicht ins Repertoire geschafft haben.
Das 2017er Opernballett „Orphée et Eurydice“ etwa zeigt zwar großen Formwillen, ist aber in seiner Bewegungssprache etwas limitiert. Edvin Revazov und Anna Laudere tanzen die Moderne-Studie konzentriert, langsam, mit ritueller Strenge, aber wie stark dieses Duo sein kann, zeigt es erst einige Stunden später, in „Parzival – Episoden und Echo“ (2006).
Nijinsky-Gala: Nicht jede vergessene Choreografie müsste wieder hervorgeholt werden
Nicht jeder vergessene Tanz müsste unbedingt wieder hervorgeholt werden, aber so etwas passiert in der Kunst. Und dass Neumeier auch ein paar nur halb gelungene Stücke in die Nijinsky-Gala holt, ist ein Hinweis darauf, wie klug der Abend komponiert ist.
Der Großteil des Programms zählt zu den abstrakteren Arbeiten Neumeiers, die weit in Richtung Zeitgenossentum ausgreifen. Leicht macht er es dem Galapublikum also nicht, aber das freut sich, gefordert zu werden – jede Nummer wird begeistert beklatscht, im ersten Teil der getragene Pas de deux „Fenster zu Mozart“ (1991), den Madoka Sugai und Alexandr Trusch mit spielerischer Erotik aufladen, das distanzierte „Songfest“ (1979), das radikale „Time After Time“ (1998), das Xue Lin und Karen Azatyan zu Béla Bartóks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ performen.
John Neumeier: „Ein bisschen verrückt, aber interessant“
„Das war ein interessanter Abend“, erinnert sich Neumeier. „Ein bisschen verrückt, aber interessant.“ Die Bartók-Choreografien verschwanden übrigens aus dem Repertoire, weil die Erben des Komponisten dessen Werke juristisch fürs Ballett sperrten – so prosaisch gerät ein Stück in Vergessenheit.
Noch in guter Erinnerung ist „Die Unsichtbaren“, entstanden 2022 für das Bundesjugendballett: „Diese Arbeit wird hoffentlich nicht vergessen werden“, meint Neumeier, auch mit Blick auf den politischen Gehalt des Stücks. Passt es, diese Hommage für im Nationalsozialismus verfolgte Tänzer in Nachbarschaft zu einer hübschen Nichtigkeit wie der „Neuen Pizzicato-Polka“ zu zeigen, choreografiert 2006 für das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker und von Ida Praetorius, Jacopo Bellussi und Allessandro Frola als reizvoller Camp performt? Ach, warum nicht.
Nijinsky-Gala: Ernst und Spaß liegen an diesem Abend eng beieinander
Ernst und Spaß liegen hier ohnehin eng beieinander, das spürt man auch beim Abschluss des ersten Teils, „Spring and Fall“. Neumeier gab die Rechte für das 1991er-Stück nach Kriegsausbruch nach Kiew, und dass jetzt das Taras Shevchenko National Opera and Ballet Theatre of Ukraine zu Gast bei der Nijinsky-Gala ist, ist ein beeindruckendes Statement, das Krieg und Zerstörung die Kraft eines gleichzeitig modernen wie traditionellen Balletts gegenüberstellt.
So viele vergessene Tänze sind hier zu entdecken! „Es tut mir leid, dass das Programm ein bisschen lang geworden ist“, meint Neumeier, „aber es reicht trotzdem nicht.“ Tatsächlich – am Ende nähert sich der Abend der Fünfstundenmarke, und man wünscht sich, noch weiter einzutauchen in diese Wundertüte am Rande eines künstlerischen Kosmos.
Finale der Balletttheatertage: Man wünscht sich, noch weiter einzutauchen
In die Piano-Ballette etwa, rund 30 Arbeiten, bei denen das ansonsten unter Simon Hewett fulminant spielende Philharmonische Staatsorchester Pause macht und Michal Bialk am Klavier das Feld überlässt. Atte Kilpinen (als Gast vom Finnish National Ballet) sorgt in „Der Fall Hamlet“ (1976) für kühle Charakterstrenge, der George-Gershwin-Abend „Shall We Dance?“ (1986) zeigt Glamour, und dann gibt es mit dem berührenden Pas de deux von Silvia Azzoni und Alexandre Riabko auch noch eine Passage aus „Désir“, der ersten Arbeit, die Neumeier 1973 auf der Bühne der Staatsoper zeigte.
Im dritten Teil dann: Gastspiele. Von Francesco Gabriele Frola (English National Ballet), der gemeinsam mit Ida Praetorius August Bournonvilles 1858 entstandenes „Blumenfest in Genzano“ tanzt, Pirouette, Brisé, sehr sicher, sehr schön, sehr klassisch, gerade angesichts der bis jetzt gezeigten Moderne ein wenig aus der Zeit gefallen.
Starker Schluss mit John Neumeier selbst auf der Bühne
Überraschend dagegen die teils fremdartig wirkenden Stücke „Bhakti III“ (Maurice Béjart, 1968), das Dan Tsukamoto und Akimi Denda (The Tokyo Ballet) zu traditioneller indischer Musik zeigen, sowie Feng Yings extra für die Nijinsky-Gala neu geschaffenes „One Thought For A Lifetime“ vom National Ballet of China.
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Mit dem klassischen, verschmitzt erotischen Pariser Gastspiel „Le Rouge Et Le Noir“ (2021) des im April verstorbenen Pierre Lacotte biegt die Gala in die Zielgerade ein. Die ist definitiv kein vergessenes Stück, sondern ein Repertoire-Dauerbrenner seit 1975: die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“.
Und bei den letzten Klängen betritt Neumeier selbst die Bühne, ein Besucher, der langsam zwischen seinen Tänzerinnen und Tänzern umhergeht, staunend, stolz und liebevoll. Ein starker Schluss eines so überraschenden wie berührenden Abends.