Hamburg. „Der Tod ist nicht das Ende“: Carsten Brosda über den Auftritt von Bruce Springsteen vor 50.000 Fans im Volksparkstadion.
Am Ende eines langen Abends steht Bruce Springsteen alleine auf der Bühne und verspricht, dass der Tod nicht das Ende ist. Und wirklich jeder im Volksparkstadion ist bereit, ihm das zu glauben. Es ist der Abschluss eines erstaunlichen Konzerts, das tiefe und zum Teil schmerzhafte Beschwörungen der Vergänglichkeit in eine mitreißende Feier des Lebens verpackt.
Kultursenator Carsten Brosda schreibt exklusiv über das Springsteen-Konzert
Schon zu Beginn wirkt es so, als gäbe es keine Zeit zu verlieren: Fünf Minuten vor dem angekündigten Beginn betreten Mitglieder der E Street Band die Bühne und werfen sich ohne große Umschweife in die Songs. Es ist gleich Zeit für große Bekenntnisse. „Ich bin bereit, wieder jung zu werden“, singt Springsteen in „No Surrender“. In „Ghosts“ verspricht die Band, zum Ende des Sets niemanden mehr am Leben zu lassen, und in „Prove It All Night“ steckt das Versprechen schon im Titel. Und so geht es weiter. Springsteen reiht Song an Song, zählt nicht selten in den Trommelwirbel des endenden Songs bereits den nächsten an. So, als würde jede Pause, jedes Auskosten des Moments die Kraft der Musik gefährden.
Das Konzert folgt einer präzisen Dramaturgie: Nach acht treibenden Songs folgt eine Passage, in der das fast jazzig improvisierte „Kitty’s Back“, die Soulnummer „Nightshift“, das suchende „Mary’s Place“ und die große Ballade „The River“ für etwas Entschleunigung sorgen, bevor das Konzert in der akustischen Solonummer „Last Man Standing“ beinahe zum Stillstand kommt. Vor dem Song wendet sich Springsteen direkt ans Publikum und erzählt, wie er 1965 zum ersten Mal in einer Band spielte.
Damals habe das größte Abenteuer seines Lebens begonnen. Die Band hielt nicht lange, die Freundschaften schon. Doch seit dem Tod des Bandgründers George Theiss 2018 ist Springsteen das einzige noch lebende Mitglied der Castiles. Und die Momente am Krankenbett seines Freundes wirken nach. Das Bewusstsein des Todes lasse die Dinge klarer erscheinen, sagt Springsteen. Es sei wichtig, jeden Tag auszukosten, solange man es könne.
Springsteen: Die Euphorie des Moments muss immer wieder neu erkämpft werden
Rockmusik lebt davon, den Moment zu feiern und sich nicht um das Gestern oder das Morgen zu kümmern. Und auch die Konzerte, die Springsteens Ruf als Live-Künstler begründeten, waren solche nicht enden wollende Momente. Aber seitdem ist viel passiert. 2023 stehen gealterte Männer auf der Bühne, denen man ansieht, dass fast drei Stunden Konzert in der Hitze auch anstrengend sind. Natürlich ist Springsteen drahtig wie eh und je und kann sich zwischen den Zugaben mit einem Augenzwinkern das Hemd aufreißen, ohne dass es peinlich wird. Aber die Euphorie des Moments muss immer wieder neu erkämpft werden, weil alle wissen, dass es irgendwann zu Ende gehen wird.
Vermutlich gibt das diesem Konzert so eine besondere Intensität: Während viele alles daransetzen, die Illusion der Alterslosigkeit zu wahren, macht Springsteen das Gegenteil: Er thematisiert die Veränderung und ermöglicht so auch einen neuen Blick auf seine Klassiker. Auch deshalb ist die Setlist durchkomponierter als früher: Springsteen zieht zwar noch nicht Bilanz, aber er beginnt, sein eigenes Werk zu kanonisieren, stellt heraus, was besonders wichtig ist. Was überdauern soll.
Melancholie gehörte zu Springsteen-Songs immer dazu. Aber hier wird sie dringlich
Auf den leisen Moment der Erinnerung folgt „Backstreets“ über eine Freundschaft, die trotz aller Schwüre nicht gehalten hat. Wie Springsteen im Refrain das Wort „hiding“ (verstecken) herauspresst und schreit, macht deutlich, dass hier jemand weiß, dass man auch in der dunkelsten Straße dem Unweigerlichen nicht entgehen kann. Geschrieben hat er das schon vor 50 Jahren in der Vergangenheitsform. Melancholie gehörte zu Springsteen-Songs immer dazu. Aber hier wird sie dringlich.
Nach diesem Song gibt es kein Halten mehr. Es folgt eine Serie großer Songs, die mit ebenso großer Leidenschaft auf die Bühne gebracht werden. Was für eine formidable Band die E Street Band doch ist: Max Weinberg wirkt zwar am Drum Kit immer noch so, als würde er gerade seine Steuererklärung machen, hält aber zugleich die Band gemeinsam mit Bassist Garry W. Tallent stoisch zusammen. Nils Lofgren und Steven Van Zandt sind als Gitarristen beinahe unterfordert, beweisen aber pointiert ihr Können. Wie ein Derwisch kreiselt Lofgren während seines Solos in „Because The Night“, während Little Steven es etwas gemütlicher, aber im richtigen Moment umso zupackender angehen lässt. Gleich im ersten Song „No Surrender“ betritt er mit einer Gitarre in den ukrainischen Farben die Bühne. Pianist Roy Bittan hat seine Auftritte ja eigentlich in den großen Balladen, von denen an diesem Abend nur „The River“ zu hören ist, aber sein Spiel treibt die insgesamt 17-köpfige Band an.
Ein kleines Mädchen bekommt Springsteens Mundharmonika geschenkt
Es gibt die bekannten Albereien zwischen Springsteen und Little Steven. Der Sänger sucht die Nähe des Publikums, verteilt Gitarrenplektren und schenkt einem kleinen Mädchen mit orangem Hut seine Mundharmonika. Sie kann ihr Glück nicht fassen.
Immer wieder in den Mittelpunkt rückt Springsteen Jake Clemons, den Neffen seines verstorbenen Bandkollegen Clarence „Big Man“ Clemons. Springsteen duelliert sich an der Mundharmonika mit Clemons’ Saxofon und spielt irre Gitarrensoli, während sich der Jüngere anerkennend auf ihn lehnt. Man bekommt das Gefühl, als würde da eine fantastische Jam Band in dieser Truppe versteckt sein, als könnten sie diese Songs noch ganz anders ausdehnen und ausdeuten, als sie es sich zugesteht.
Aber Songs wie „Born To Run“, „The Promised Land“ oder „Tenth Avenue Freeze-Out“ sind so groß und so überwältigend, dass es zugleich immer wieder so wirkt, als müssten Springsteen und seine Freunde diese Biester zähmen, um sie überhaupt auf das Publikum loszulassen. Es ist so grundsätzlich, was hier verhandelt wird, dass bei aller Freude Vorsicht geboten ist.
Springsteen zeigt: Wir können uns gegenseitig mitreißen, gemeinsam Kraft schöpfen
Hier verschmelzen Melancholie, Anstrengung und Zuversicht zu einem großen gemeinsamen Gefühl, dass es alles doch eigentlich gehen könnte. „Du kannst ein Feuer nicht ohne einen Funken entfachen“, heißt es in „Dancing In The Dark“. Dieser Funke ist die Kunst. Deshalb brauchen wir kulturelle Räume und Erfahrungen. Deswegen sind wir als Gesellschaft gefordert, die Künste in unsere Mitte zu holen und uns von ihnen inspirieren zu lassen. Sie zahlen es uns hundertfach zurück, sie zünden uns an. So wie hier 50.000 Menschen gemeinsam feiern und sich gegenseitig antreiben, so müssten wir eigentlich als Gesellschaft insgesamt immer miteinander umgehen. Leicht ist es nicht. Aber wir können doch trotzdem einfach machen, uns gegenseitig mitreißen, gemeinsam Kraft schöpfen und einander Geschichten erzählen – von der Vergangenheit genauso wie von der Zukunft.
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Springsteen gilt als der große Geschichtenerzähler unter den US-Songwritern. Es gelingt ihm, mit wenigen Sätzen Welten an Erfahrungen und Emotionen aufzuschließen. In „Thunder Road“ fährt ein Junge zu seiner Freundin und will sie überreden einzusteigen und mit ihm wegzufahren. Mehr ist da eigentlich gar nicht. Aber es ist meisterhaft in Worte gefasst. „Das ist eine Stadt voller Verlierer, lass uns hier abhauen, um zu gewinnen.“ Diese Schlusszeilen spüren wirklich alle und singen mit.
Springsteen hat schon recht. Es kann nach dem Tod tatsächlich weitergehen, wenn die Lebenden das Träumen nicht vergessen. Dieser so besondere Abend ist aber zunächst eine kraftvolle Erinnerung daran, wie schön es ist, jetzt gemeinsam am Leben zu sein.
Am 4. September erscheint bei Hoffmann und Campe „Mehr Zuversicht wagen“, das neue Buch von Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda. Darin gibt es drei Unterkapitel mit dem Titel „The Gospel according to Bruce Springsteen“, in denen Songs wie „Thunder Road“, „Youngstown“ und „Land Of Hope And Dreams“ intensiv herangezogen werden.