Hamburg. In der Halle 424 fühlt sich das Ensemble Reflektor wohl – und das Publikum auch. Mit kühlem Bier und starken Komponistinnen im Programm.

Draußen die Spuren eines ehemaligen Güterbahnhofs: mit Laderampen, lang gezogenen Flächen und funktionaler Backsteinarchitektur. Und drinnen ein riesiges Atelier, das den Lagerhallen-Charme kreativ auflockert. Rechts an der Wand das Breitformatbild einer alten Schauspielhaus-Produktion. Oben an der Decke ein shabby Kronleuchterimitat aus Glühbirnen. Und links eine kleine Theke mit Lichterkette, Engelsputte und sehr gutem Pils im Kühlschrank.

Ja, die Halle 424 im Hamburger Oberhafen ist ein besonderer Ort, der ganz entspannt Brüche und Begegnungen inszeniert. Kein Wunder, dass sich das Ensemble Reflektor hier so wohlfühlt. Seit dem ersten Auftritt vor knapp acht Jahren hat das norddeutsche Kammerorchester in der Halle eine Heimat gefunden. Für seine regelmäßigen Gastspiele in Hamburg, die ein urbanes Publikum anlocken – in weiten Teilen ähnlich jung wie die Mitglieder des Orchesters selbst.

Ensemble Reflektor: Billie Eilish wirkt wie eine Seelenverwandte des Orchesters

Sie haben eigene Vorstellungen davon, wie sie das Musikformat namens „Konzert“ weiterentwickeln und auf ihre Art nahbarer machen wollen. Mit der Wahl der Location, aber auch im Repertoire. „You should see me in a crown“ heißt das aktuelle Programm, inspiriert durch den gleichnamigen Song von Billie Eilish. Jener US-amerikanischen Singer-Songwriterin, die sich gängigen Erwartungen an Stiltreue und Rollenmuster entzieht und damit wie eine Seelenverwandte des Orchesters wirkt.

Vier Songs von Billie Eilish hat sich das Ensemble Reflektor maßschneidern lassen, vom Arrangeur Ian Anderson. Und dessen Bearbeitungen sind – ja, großes Wort, trotzdem passend – genial. Weil sie die Stücke nicht bloß auf eine andere Besetzung übertragen, sondern etwas Eigenes daraus machen.

Anderson mischt frische Farben, findet unerhörte Klänge. Indem er die traditionellen Instrumente in ungewohnte Regionen führt, wie zu Beginn des Titelsongs, mit dem heiseren Gesang der Kontrabässe in hoher und höchster Lage. Aber auch, indem er die Techniken und das Instrumentarium des Orchesters erweitert.

Ensemble Reflektor: Eilish-Arrangements sind Herzstück und Höhepunkt des Programms

An einigen Stellen nutzen die Hörner Mundstücke vom Kontrafagott, um ihren Klang zu verfremden. Die Streicher zupfen mit Gitarrenplektrum und erzeugen so ein eigentümlich trockenes Pizzikato. Oder sie blasen auf bunten Kazoos und bereichern den Klang damit um eine geräuschhafte Farbe, wie im Song „Happier Than Ever“. Von schräg bis posaunenhymnisch, von knackig bis vertrackt reicht das Spektrum, lustvoll ausgereizt vom Ensemble Reflektor unter Leitung von Holly Hyun Choe.

Das Publikum sitzt in der Halle 424 dicht an den Künstlern dran.
Das Publikum sitzt in der Halle 424 dicht an den Künstlern dran. © Michael Rauhe

Die Eilish-Arrangements sind Herzstück und Höhepunkt eines Programms, das Musik von Komponistinnen aus drei Jahrhunderten in den Fokus rückt. Darunter Florence Price, Pionierin der afroamerikanischen Kunstmusik, deren Schaffen seit ein paar Jahren auch in Deutschland endlich mehr Aufmerksamkeit bekommt. Das Ensemble spielt ihre „Five Folksongs in Counterpoint“ für Streicher, in denen Price Melodien aus Liedern wie „Swing Low, Sweet Chariot“ aufgreift und kontrapunktisch verarbeitet.

Akustik in Halle 424 macht das Mischen nicht einfach

Vielleicht hätten die Werke einen etwas fetteren Sound vertragen; die Akustik in der Halle 424 ist schon sehr direkt, sie macht es nicht einfach, die Stimmen zu mischen. Dadurch klingen die Stücke von Price an diesem Abend mitunter etwas spröde. Anders „Red Clay Mississippi Delta“: ein bluesig angehauchtes Bläserquintett von Valerie Coleman, mit einkomponiertem Fingerschnipsen. Die Halle groovt.

Nach der Pause, mit Kaltgetränk, frischer Luft und Blick auf den Oberhafen, dann noch eine weitere Entdeckung, diesmal aus Deutschland: die sechste Sinfonie von Emilie Mayer, die im 19. Jahrhundert als erste Berufskomponistin in Europa galt.

Mit organisch schwingenden Gesten bündelt Dirigentin Holly Hyun Choe die Energie im Kopfsatz, die sich aus einer brummelnden Trillerfigur entwickelt. Sie findet den gedeckten Trauerton im Marcia funebre und führt das Ensemble über ein erstaunlich dramatisches Scherzo ins Finale von Mayers Sinfonie, mit überraschenden Charakter- und Farbwechseln. Vom geheimnisvollen Flirren der Streicher über das Gute-Laune-Bimmeln des Triangels ist alles dabei.

Ein knackiger Schluss. Aber als Zugabe kommt, natürlich, noch mal ein Song von Billie Eilish, mit der Wiederholung von „Oxytocin“. Das Arrangement fetzt.

Drinnen stampfende Rhythmen und verdienter Jubel. Draußen der ferne Nachhall einer Schiffshupe. Passt.