Hamburg. Der Einstieg wirkt etwas bemüht, dann wird es kraftvoller: Anton Plevas Regiedebüt „Frühlings Erwachen“ funktioniert nicht durchgehend.
Der süße Vogel Jugend ist ja eigentlich ein Mythos. Erwachsen werden hat mit Brüchen und Unsicherheiten und eher wenig mit Romantik zu tun. In Frank Wedekinds Kindertragödie „Frühlings Erwachen“ steht vieles, was zeitlos gültig ist, anderes erscheint antiquiert in einer Zeit, in der junge Menschen vermeintlich so aufgeklärt und frühreif wirken. Aber sind sie es wirklich? Die moralischen Fragen der Liebe begegnen jeder Generation aufs Neue. Und doch muss man natürlich für diesen 1891 erschienenen, nach Verbot erst 15 Jahre später uraufgeführten Klassiker – der Anklage einer mit Tabus belegten Sexualmoral in wilhelminischer Zeit – eine neue, radikale Form finden.
Regisseur Anton Pleva versucht es für die Premiere seiner Version am Ernst Deutsch Theater mit einer Rahmenhandlung. Darin genießt eine Schar Jugendlicher ein scheinbar unbeschwertes Gartenfest und stolpert über ein Reclam-Heft mit dem Wedekind-Text. Dieser Einstieg wirkt seltsam bemüht, das Spiel leidlich übertrieben, doch dann gleitet die Inszenierung über in einen kraftvolleren Teil, in dem der Regisseur zunehmend Wedekinds Text vertraut und auf ernsthafte Begegnungen der Figuren setzt.
Ernst Deutsch Theater: Die liberalen Eltern ahnen nichts von der Verunsicherung ihres Sohnes
Die Gartenlaube, die Timo von Kriegstein auf der Bühne errichtet hat, wirkt mit ihrem Materialmix wie aus Resten des Kapitalismus zusammengezimmert. Das sei doch alles Oberfläche, wird der heranwachsende Melchior am Ende sagen – und damit auch einen Vorwurf an die Elterngeneration formulieren. Melchior ist ein kluger Kopf, doch seine liberalen Eltern ahnen nicht, dass auch er eine Verunsicherung in sich trägt, die zu einer Tragödie führt, als er auf die lebenshungrige Wendla trifft.
Der Druck der Autoritäten – Eltern und Schule – ist grundsätzlich gewaltig und mitunter handgreiflich. Die Sehnsucht nach Freiheit und Erfüllung groß. Die daraus erwachsene Verlorenheit der Jugendlichen, die auf sich allein gestellt sind – das junge Ensemble übernimmt auch alle Elternrollen – führt zu einem Austesten von Gewalt und erzwungenem Geschlechtsakt. Für die am Ende von Melchior schwangere Wendla hat dies dramatische Folgen. Die Abtreibung überlebt sie nicht. Melchiors Freund Moritz wiederum hadert mit dem Erwachsenwerden und fehlenden Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Aus einem Gefühl des Scheiterns heraus wählt er einen radikalen Ausweg: den Suizid.
Ernst Deutsch Theater: Drehbühne, Live-Video, Live-Musik – das wirkt etwas überladen
Anton Pleva stellt die Dramatik nicht aus, überspitzt stattdessen die dem Stück auch immanente Satire. Allerdings wirkt die Mischung aus einer oft unmotiviert rotierenden Drehbühne, Geistererscheinungen, Live-Video und Live-Musik von Henrik Demcker szenisch etwas überladen. Wenn dann inhaltlich noch Erklärungen über Fridays for Future und Verschwörungstheoretiker hinzukommen, verliert die Inszenierung immer wieder den Fokus. Wenig glücklich gerät überdies eine grotesk clownesk überzeichnete Szene, in der sich Melchior vor der Lehrerschaft für sein Handeln verantworten soll.
Dabei tragen zwei starke Protagonisten die Inszenierung: Maximilian Kurth verkörpert überzeugend die Zerrissenheit des Melchior Gabor. Felix Oitzinger meistert die Figur des Moritz Stiefel mit all ihren Zwischentönen bravourös. Linda Stockfleth gibt Wendla Bergmann ebenfalls souverän zwischen Lebens- und Erfahrungshunger und strenger Erziehung. Unter den Nebenrollen glänzt vor allem Alina Hidic als Wendlas Mutter mit kraftvollem Ausdruck, während Denise Teise bisweilen unverständlich artikuliert und Ivo Masannek seine Figuren arg überdehnt.
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Am Ende greift der Regisseur selbst in der Rolle des „vermummten Herrn“ in das Geschehen ein, als Melchior und Moritz auf dem Friedhof zu einer denkwürdigen Begegnung finden. Es gibt Hoffnung in dieser Düsternis. Das Leben – es siegt auch diesmal.
„Frühlings Erwachen“ weitere Vorstellungen bis 10.7., für Menschen ab 13 Jahren, Ernst Deutsch Theater, Friedrich-Schütter-Platz 1, Karten unter T. 22 70 14 20; www.ernst-deutsch-theater.de