Hamburg. Christian Dittloff ist ein Kind der 1980er. In seinem Buch schreibt er über überholte Geschlechterbilder – die Reaktionen sind scharf.
Der aus Bergedorf stammende Berliner Autor Christian Dittloff („Das Weiße Schloss“) hat in dieser Literatursaison eines der interessantesten Bücher vorgelegt. Es heißt programmatisch „Prägung. Nachdenken über Männlichkeit“ und ist durchaus eine Abrechnung mit dem Patriarchat.
Der 40-Jährige hinterfragt in seinem sehr persönlichen Buch eigene Kindheits- und Jugenderlebnisse und erklärt, wie er falsche Geschlechter-Bilder mit auf den Weg bekam – zum Beispiel das des Mannes, der stark und mächtig sein muss. Ein Interview.
Neues Buch von Dittloff bekam bei Lesungen positives Feedback
Sie haben bereits Lesungen und Interviews zu Ihrem Buch gegeben. Wie waren die Reaktionen?
Christian Dittloff: Ich habe insgesamt sehr positives Feedback bekommen, das bedeutet mir viel. In meinem Buch setze ich mich sehr persönlich und kritisch mit prägenden Männlichkeitsbildern auseinander. Da „Männlichkeitsbilder“ ein umkämpftes Thema sind, das viele andere Diskurse berührt, gab es aber auch Hasskommentare.
Wie gehen Sie damit um?
Dittloff: Viele verwechseln Patriarchatskritik mit der Kritik an allen Männern. Mir geht es in dem Buch nicht um eine an mein Geschlecht gerichtete Anklage, es geht mir allein um das Aufzeigen von Männlichkeitsbildern und wie sie strukturell wirken können.
Autor hinterfragt seine eigene Prägung von Geschlechterrollen
Ihr Werk ist eine männliche Selbstreflexion und hinterfragt durchaus vorsichtig Prägungen. Ein Gesprächsangebot?
Dittloff: Genau. Mein Buch ist kein Sachbuch, sondern eine literarische Spurensuche. Ein Sachbuch würde vor allem über Fakten und Informationen arbeiten. Es geht mir aber darum, mein eigenes Aufwachsen, meine Prägungen im Hinblick auf Geschlechterrollen zu hinterfragen. Viele kennen das Gefühl der Unsicherheit aus der Kindheit, viele wissen, wie es ist, nicht dazuzugehören, in der Schule gehänselt zu werden. Aber auch wie verlockend es ist, Teil einer Gruppe zu sein, die den Ton angibt und sich über andere erhebt. Ich wollte all diesen Gefühlen nachgehen.
Es ist nach „Niemehrzeit“, einem Trauerbuch nach dem Tod Ihrer Eltern, Ihr zweiter sehr persönlicher Text. Sind Sie Fan von Annie Ernaux?
Dittloff: Annie Ernaux ist neben Daniela Dröscher, Edouard Louis und Joan Didion zuletzt die wichtigste Autorin für mich gewesen. Sie betrachtet sich als Ethnografin ihrer selbst, die mit dem Material des eigenen Lebens arbeitet. Sie geht davon aus, dass sich in der Biografie einer Einzelperson immer auch die Gesellschaft zeigt. Diese literarische Technik funktioniert für mich über extrem persönliche Details, wie zum Beispiel einer Liste mit 50 Fakten über meinen Vater. Diese Liste erzählt von seiner liebevollen Art, seinem Wortwitz, aber auch seiner Vorliebe für die Angebote eines Discounters. Interessanterweise erkennen Leserinnen und Leser gerade in den Details ihr eigenes Verhältnis zu den Eltern oder zu sich selbst wieder. Denn wenn wir persönlich sind, sind wir besonders spürbar.
Neues Buch von Dittloff ist profeministisch
Ist „Prägung. Nachdenken über Männlichkeit“ ein feministisches Buch?
Dittloff: In jedem Fall ist mein Buch eine profeministische und kritische Betrachtung von gewaltvollen Männlichkeitsbildern. Es geht mir letztlich um das gute Leben für alle, und das bedeutet auch, Geschlechterbilder aufzuweichen, vor allem solche, die sich selbst oder anderen schaden.
Wenn es ein Ihnen heute peinliches persönliches Erlebnis gibt, das ein problematisches Männlichkeitsgehabe am besten illustriert, welches wäre das?
Dittloff: Es ist nicht ein einzelnes Erlebnis, sondern die Allgegenwärtigkeit und Selbstverständlichkeit von gewaltvollen Machtgesten in Sprache, Körperlichkeit und Miteinander. Ich möchte nicht die Handlung einer Einzelperson herausgreifen und anklagen, sondern betrachte eher meine Vergangenheit, suchend, forschend.
„Prägungen“: Eine Reise in die eigenen Erinnerungen
Mit Ihrem Buch steigen Sie in den Steinbruch von Kindheit und Jugend hinab, um dem, was Ihr Bild von Männlichkeit geprägt hat, auf die Spur zu kommen.
Dittloff: Aus diesem Steinbruch, der so etwas wie eine Metapher für mein Gedächtnis ist, hole ich Erinnerungen hoch, die ich mit dem Wissen von heute unter die Lupe nehme. Im Schreiben versuche ich zu verstehen, wie ich der Mann geworden bin, der ich heute bin. Da gibt es etwa den Kindergartenfreund, der mich vor einer Beschämung beschützt hat, als mir im Jungsklo als Vierjähriger ein kleines Malheur passiert ist. Er hat plötzlich eine Wasserschlacht angezettelt, damit man die Flecken auf meiner Hose nicht sieht. Oder den Leiter eines literarischen Antiquariats in Bergedorf, der meine Leseleidenschaft unterstützte; meinen Vater, der sehr sanft und bedacht war. Ich frage aber auch: Welche Musik habe ich gehört, warum habe ich in der Schule fast nur männliche Autoren gelesen, und was hat das mit meiner Vorstellung der Welt gemacht, welches Bild von Frauen wurde mir vermittelt?
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Ihre Erfahrungen ähneln denen von anderen Männern Ihrer Generation. Sind Machtmechanismen, die auf männlichen Herrschaftsansprüchen beruhen, für Männer eigentlich genauso problematisch wie für Frauen?
Dittloff: Das Patriarchat ist ein System der strukturellen Diskriminierung. Es ist ein System von sozialen Beziehungen, maßgebenden Werten, Normen und Verhaltensmustern, das von Vätern und Männern geprägt, kontrolliert und repräsentiert wird. Darin profitieren vor allem weiße, heterosexuelle Männer, insbesondere in Hinblick auf die Erfolgsversprechen des Kapitalismus: Zugänge zu Macht und Geld. Nichtsdestotrotz leiden alle Menschen unter patriarchaler Männlichkeit, etwa deshalb, weil körperliche Gewalt fast immer von Männern ausgeht, egal, gegen welches Geschlecht sie sich richtet. Männern wird außerdem der Kontakt zur eigenen Gefühlswelt abtrainiert: So ein Spruch wie „Jungs weinen nicht“ mag klischiert daherkommen und doch ist es ein ständig wiederholter Glaubenssatz. Und wer verlernt, Mitgefühl mit sich selbst zu haben, verliert auch die Empathie als soziale Praxis im Alltag.
Dittloff tut sich schwer mit Geschlechteridealen
Männlichkeit in destruktiver Form ist gleichbedeutend mit Macht und Gewalt. „Gewaltvolle Männlichkeitsbilder sind verantwortlich für die großen Krisen der Gegenwart“, heißt es einmal in Ihrem Buch. Sind es ausschließlich weibliche Prinzipien, die als Gegengift wirken?
Dittloff: Wenn Reichtum, Macht, Stärke, Dominanz die Vorstellungen prägen, wie Männer zu sein haben, dann verhalten sich die Männer, die das Gefühl haben, diesen Männlichkeitsbildern entsprechen zu müssen, oft gewaltvoll. Denn um Macht auszuüben, wendet man auf die eine oder andere Form immer Gewalt an, um einen Unterschied zwischen sich und einem Gegenüber zu erzeugen. Das kann sich in körperlicher Gewalt äußern, in Sprache, in Sexismus, in Ausbeutung, in Rassismus usw. Was ich mir für die Gesellschaft wünsche, ist Verbundenheit, Gerechtigkeit, Fürsorge. Für mich sind dies aber keine ausschließlich weiblichen Prinzipien, sondern menschliche Handlungen, die gut für alle Menschen sind und Hierarchien entgegenwirken.
Gibt es althergebrachte Männlichkeitsideale, die Sie gelten lassen?
Dittloff: Selbst mit der Frage nach neuen Männlichkeitsidealen tue ich mich schwer. Geschlechterideale erzeugen grundsätzlich Ausschluss. Eine Normierung, die sagt, dass Menschen so oder so sein sollten, schafft immer Hierarchien und ist in diesem Sinne gewaltvoll. Mir geht es vielmehr darum, dass Menschen nicht von anderen fertiggemacht werden für ihr Geschlecht, Gender, sexuelle Orientierung, für ihre Körper oder ihre Herkunft. Ein anzustrebendes Ideal kann für mich nur sein: Menschen in ihrer Verschiedenheit zu akzeptieren und keine Gewalt gegen andere anzuwenden.
Dürfen und müssen sich Frauen und Männer unterscheiden?
In welchen Bereichen dürfen und müssen Frauen und Männer sich unterscheiden?
Dittloff: Alle Menschen sollten sich immer voneinander unterscheiden dürfen. Die Unterscheidung sollte nur nicht an das soziale Geschlecht und an Machtverhältnisse gekoppelt sein.
Glauben Sie, dass die durchschnittlichen weißen, männlichen Mittelschichtsprägungen für junge Menschen heute schon andere sind als vor 30 Jahren?
Dittloff: Wovon ich nach dem Schreiben von „Prägung“ wirklich überzeugt bin, ist, dass strukturell alle Männer patriarchal zugerichtet und geformt werden. Das heißt, dass in Kindergarten und Schule, durch Freunde und Eltern, durch Popkultur und Literatur bestimmte Bilder von Männlichkeit vermittelt werden, denen Jungs nacheifern. Vielleicht wird das heute etwas aufgebrochen. Die männlichen Popstars sind nicht mehr nur James-Bond-mäßig, sondern oft fluider, weicher und vielschichtiger wie Harry Styles oder die Teenager aus „Sex Education“. Heute wird dem Patriarchat auch stärker widersprochen als zu meiner Jugend. Und das ist richtig so. Trotzdem ist nicht alles gut. Sexismus und Geschlechterungerechtigkeit werden uns noch lange beschäftigen.
Das auch männliche Nachdenken über Patriarchats und Sexismus ist derzeit en vogue. Warum haben Männer sich nicht früher mit altbackenen Prägungen beschäftigt?
Dittloff: Viele Männer beschäftigen sich noch immer nicht mit der eigenen patriarchalen Prägung, weil sie in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft davon profitieren. Um selbstkritisch die eigene Prägung und Männlichkeitsbilder zu untersuchen, müssen Männer verstehen, dass sie vielleicht auch unter der Enge der zugeschriebenen Rolle leiden und gleichzeitig manchmal selbst Leid verursachen. Ich möchte niemals biologisch deterministisch argumentieren und sagen: Männer sind so. Sondern Männer werden so gemacht und darunter leiden Männer auch.