Hamburg. „Fleisch“ im Rangfoyer des Deutschen Schauspielhauses ist ein durchdachtes Dialogstück über sexuellen Missbrauch.
Es ist so eine Sache mit Erinnerungen und Wahrnehmungen. Was für Ronan eine irgendwie merkwürdige Begegnung war, die er – alkoholisiert – auf einer Party im Alter von 19 Jahren mit seiner damaligen Freundin teilte, war für eben jene Max ein sexueller Übergriff, den sie als „krass“ erlebte, aber erst einmal verdrängte.
Nun treffen sie sich nach über zehn Jahren wieder. Beide haben sich hochgearbeitet. Er ist inzwischen erfolgsverwöhnter Chef eines Restaurants mit dem Namen „Fleisch“, sie, die angesagte Bloggerin, teilt ihm mit, dass sie das Erlebte zwischen zwei Buchdeckeln ausbreiten wird.
Theater Hamburg: „Fleisch“ im Rangfoyer des Deutschen Schauspielhauses
Gillian Greers Stück „Fleisch“, dessen deutschsprachige Erstaufführung Julia Redder nun im Rangfoyer des Deutschen Schauspielhauses inszenierte, ist der – hilflose – Versuch, für das Geschehen rückblickend die richtigen, die treffenden Worte zu finden. Eine starke Setzung und ein aktueller Stoff, der hier als klug verunsicherndes Gedankenspiel durchdekliniert wird.
Matti Krause gibt Ronan als eitlen Emporkömmling, betrunken von sich selbst und seinen dargereichten Austern. Sanghwa Park hat dafür eine beklemmend kalte Bühne gebaut mit einem langen marmornen Restauranttisch und einer Anrichte, auf der das noble Essen irgendwie bedrohlich vor sich hin glibbert. Phänomenal ist auch die wippende Vogellampe.
Für eine strafrechtliche Untersuchung bräuchte es Beweise
Ronan hat inzwischen mit Jo eine Mitinhaberin gefunden, die bei Ruth Marie Kröger eine starke Selbstbehauptung entwickelt. Es bleibt ein spannender, aber auch schwieriger Dialog, wenn die von Eva Maria Nikolaus kraftvoll gegebene Max erst zaghafte Andeutungen macht und in Ronan, bei allem übergroßen Selbstbewusstsein, mit dem er sich im pastellfarbenen Anzug und Sneakern auf den teuren Tisch wirft, dann doch großes Unbehagen hervorruft.
Könnte es sein, dass er doch? Seine Erinnerung kehrt mühsam zurück, und sie deckt sich nicht mit der von ihr erzählten und im Buch beschriebenen. Er insistiert, er sei kein schlechter Mensch. Das hier sei keine strafrechtliche Untersuchung, sagt sie. Nein, sagt er, „dazu bräuchte man ja Beweise oder so.“ Worte wie Nadelstiche. Wie häufig in diesen Fällen landet man bei „er sagt“, „sie sagt“.
Wenn ein Kuss wenig mit Verlangen zu tun hat
„Fleisch“ ist ein Stück, das von der Wortlosigkeit zwischen den Geschlechtern handelt und auch von den vielen Grauzonen, die existieren, wenn ein Kuss sich aus Gründen ereignet, die manchmal wenig mit Verlangen zu tun haben und nicht notwendig eine Einladung für mehr sein müssen.
Ach, es ist kompliziert. Dabei ist es so einfach, ein aufgezwungener Akt bleibt ein aufgezwungener Akt.
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Theater Hamburg:
Die junge Regisseurin Julia Redder findet für dieses komplexe Thema und den dahinterstehenden Diskurs eine angemessene, durchdachte Form. Die Akteure treiben das Geschehen auf die Spitze, das Spiel wird zunehmend emotionaler, körperlicher – und bleibt doch distanziert.
Und man kann sich als Zuschauer nie ganz sicher sein, wo denn nun genau die Wahrheit liegt.
„Fleisch“ weitere Vorstellungen 24.4., 25.4., 2.5., 22.5., 31.5., jew. 20 Uhr, Rangfoyer im Deutschen Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter T. 24 87 13; www.schauspielhaus.de