Hamburg. Die Retro-Rocker traten mit Co-Act Graveyard in der Freiheit auf. Ging gerade noch als Spaß durch, nur ein Roadie musste leiden.

„Habt ihr Bock oder was?“, steht am Mittwoch auf den T-Shirts am Fanartikelstand in der Großen Freiheit 36, gehalten im Stil von Black Sabbaths Album „Master Of Reality“. Klar hat Hamburg Bock: Mit Graveyard aus Göteborg und Kadavar aus Berlin gibt es an diesem Abend die Vollbedienung 70er-Retro-Rock mit einer Doppel-Headlinershow, dazu noch endlos hallende Psychedelic-Gitarrenwände der Vorband Polymoon aus Finnland. Kann man sich mal gönnen.

Es ist der erste gemeinsame Abend von Graveyard und Kadavar, nachdem sich Letztere in den Tagen zuvor in Bremen und Leipzig allein aufgewärmt haben. Entsprechend erwischen die Schweden einen Kaltstart und brauchen eine ganze Weile, um mit ihrem verschleppten Bluesrock auf Touren zu kommen. Doch kaum sind sie mit „Ain’t Fit To Live Here“ auf der linken Spur angekommen, ist ihr Set nach einer Stunde auch schon vorbei.

Große Freiheit 36: Der mächtige Ampeg-Turm des Bassisten gibt den Geist auf

Zumindest die Ohren können sich so kurz erholen, der Sound in der nicht ganz ausverkauften Freiheit ist mit viel gutem Willen mittelmäßig, vor allem die Kickdrum ist völlig übersteuert und „Ich tanze auf dem Grab deiner Ohren“-laut. Da hat wohl jemand am Mischpult die Techno-Taste erwischt. Moderne Technik und ihre Tücken.

Aber auch altmodisches Gerät spielt nicht immer mit. Kadavar gehört (wie auch Graveyard) zu den Lieblingsbands der Chiropraktiker-Innung, weil sie ihren von Black Sabbath und Pentagram, aber auch Hawkwind oder Cream überlieferten 60er- und 70er-Sound authentisch mit kühlschrankgroßen Röhrenverstärkern entfesselt. Die sind allerdings nicht nur bockschwer, sondern auch empfindlich. Schon nach wenigen Takten gibt der Ampeg-Turm von Kadavar-Bassist Simon „Dragon“ Bouteloup den Geist auf. Mit eiskaltem Django-Blick unter der Cowboyhutkrempe und einigen eher nicht so netten Worten schickt Dragon seinen Techniker auf die Suche nach Ersatz.

Die wuchtigen Songs von Kadavar haben ihre eigene Gravitation

Das ist live. „Habt ihr Bock? Haben wir einen Bass-Amp gefunden?“, fragt Sänger und Gitarrist Christoph „Lupus“ Lindemann in den ungeduldigen Saal, dann kann es endlich losgehen. Schneller, härter und wuchtiger als Graveyard geht es zur Sache. Die Berliner machen keine Kompromisse, es dröhnt, röhrt und schallert, als hätten Songs wie „Thousand Miles Away From Home“ oder „Last Living Dinosaur“ ihre eigene Gravitation – mit Trommeltier Christoph „Tiger“ Bartelt in ihrem Zentrum.

Seit einigen Monaten hat sich die 2010 gegründete Band auch noch mit dem Keyboarder und zweiten Gitarristen Jascha Kreft verstärkt, der vor allem den ruhigeren und progressiveren Liedern des aktuellen Albums „The Isolation Tapes“ (2020) wie „II – I Fly Among The Stars“ mehr Tiefe verleiht. Die etwas über 1000 Fans nehmen ihn wie auch „Die Baby Die“ gelassen auf.

Große Freiheit 36: Mehr als höflicher Applaus ist nicht zu holen

Tja, das Hamburger Publikum. Seit dem ersten Auftritt in Hamburg im Indra beim Reeperbahn Festival 2012 war Kadavar nahezu jährlich Gast in der Hansestadt, vom Hafenklang bis zur Freiheit. Mit ihrer Mischung aus Hardrock, Krautrock und Psychedelic gehören der Band auch die großen Festivalbühnen von Hellfest bis Wacken Open Air. Klasse Musiker, tolle Songs, kaum zu glauben, dass die vier aus Berlin kommen und nicht aus Birmingham oder London.

Aber viel mehr als höflicher Applaus ist in Hamburg am Mittwoch nicht zu holen. Unterkühlte Stimmung, abrauchende Verstärker: ein klassischer Tourauftakt. Trotzdem fragt Lupus nach 70 Minuten und „Come Back Life“: „Hamburg, wollt ihr noch einen, oder was?“: Ja, dafür reicht der Bock dann doch noch.