Hamburg. Der norwegische Starpianist schmiedete einen Abend lang eine Gemeinschaft. Alle Wünsche erfüllte er im Großen Saal aber nicht.

Der Mensch hört rückwärts. Ein Ton, eine musikalische Figur erhalten ihre emotionale Bedeutung erst in dem Moment, in dem sie abgeschlossen werden: Setzt der Interpret ein Fragezeichen dahinter oder gar ein Ausrufezeichen?

Dass sich ein ganzes Programm retrospektiv erschließt, kommt nicht oft vor. Der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes hat bei seinem Recital in der Elbphilharmonie eine Dramaturgie walten lassen, die einen beim Hören gleichsam in die Vogelperspektive hinaufzieht.

Was haben Alexander Vustin, Leoš ­Janáček und Valentin Silvestrov mit Beethoven zu tun? Vustins „Lamento für Klavier“, eine Klage auf den Tod eines Freundes aus dem Jahre 1974, hören wir mit naiven Ohren. Nehmen das Kreisen des Dreierrhythmus in der linken Hand wahr, erschrecken über die Einwürfe der rechten Hand. Die bewegen sich oft in einer anderen Tonart und verkehren mit ihrer verzweifelten Lautstärke ihren vogelrufartigen Charakter ins Absurde.

Leif Ove Andsnes in der Elbphilharmonie: Eine politische Note im Programm

Von diesem wenige Minuten kurzen Stück leitet Andsnes direkt zu Janáčeks Klaviersonate „1.X.1905“ über. Vor dem ausverkauften Saal trifft er traumwandlerisch sicher genau die Zehntelsekunde, in der Vustin abgeschlossen ist, seine Wirkung entfaltet hat, und in der er, Andsnes, den inneren Zusammenhang mit Janáček herstellen kann. Es teilt sich unmittelbar mit, wie der Künstler über die ganze erste Konzerthälfte die Spannung hält.

Die politische Note des Programms dringt nur allmählich ins Bewusstsein. Janáček hat mit seiner Sonate eines Demonstranten gedacht, der am titelgebenden 1. Oktober von Soldaten erstochen wurde. Die Musik ist dichtgewoben, melancholisch und von hintergründiger Virtuosität; um so verstörender wirken die gelegentlichen Kanten und Abbrüche.

Wie eine heitere Spiegelung wirkt die nachfolgende „Bagatelle“ von Valentin Silvestrov. Allein der Name des ukrainischen Komponisten ist eine politische Aussage. Es ist dieses kurze Stückchen, das im Nachhinein die Verbindung auch zu Vustin hörbar macht. Zugleich bildet es das Scharnier zu Beethovens großer, später Sonate As-Dur op. 110. Wie an Zauberfäden zieht Andsnes das Publikum mit seinem organischen, atmenden Spiel in den Beethovenschen Kosmos hinein. Nichts wirkt aufgesetzt daran, wie er sich in der Seelenlandschaft bewegt. Begriffe wie Phrasierung, Artikulation, Klangfarbe? Überflüssig. Diesem Pianisten braucht man einfach nur mit dem Herzen zuzuhören. Irgendwo im Untergrund pocht die Verbindung zu den vorigen Werken.

Elbphilharmonie: Jubel bricht erst nach langer, atemloser Stille aus

Bei Antonìn Dvořák Zyklus „Poetische Stimmungsbilder“ nach der Pause zeigt sich dann die zentrale Stellung, die die Beethoven-Sonate in dem Programm einnimmt. Einige der Sätze scheinen mit ihrer gebethaften, tiefernsten Schlichtheit an die erste Konzerthälfte anzuknüpfen. Andere holen mit dem Dvořák-typischen lebensbejahenden Charme weit aus.

Als dieser Lebensbilderbogen mit einem schlichten Aufgang verklungen ist, sind Künstler und Publikum längst zu einer Gemeinschaft geworden. Die Menschen gehen seismografisch mit Andsnes mit, der Jubel bricht erst nach langer, atemloser Stille aus. Andsnes gibt die „Ballade vom Aufstand“ von Harald Sæverud zu, geschrieben während der deutschen Besatzung Norwegens im Zweiten Weltkrieg. „Ravel, Ravel!“ bittet eine Frau vom Rang aus. Sie bekommt: eine Mazurka von Chopin. Natürlich vom Allerfeinsten.