Hamburg. Pianist Leif Ove Andsnes über Karriere, Griegs Frosch und den wichtigen Rest des Lebens. Im November kommt er in die Elbphilharmonie.
Mal eben etwas vom Zaun brechen, damit muss man Leif Ove Andsnes nicht kommen. Seine Projekte sind komplex, aber lohnend. Für „Mozart Momentum 1786/1786“, eine Auseinandersetzung mit Schlüsselwerken aus jenen Jahren, hat er sich – wie schon für Beethovens Klavierkonzerte – mit dem Mahler Chamber Orchestra zusammengetan, demnächst sind sie an drei aufeinanderfolgenden Abenden in der Elbphilharmonie zu Gast. Ein Gespräch über Karriere, über Griegs Frosch und den wichtigen Rest des Lebens.
Eine schwere Frage zum Einstieg: Was macht einen Pianisten zu einem guten Pianisten?
Leif Ove Andnses: Pianist / Musiker wohl eher… Man ist ein guter Pianist, wenn man Momente erlebt, in denen man nicht mehr an die Herausforderungen der Musik denkt. Wenn man keine Hindernisse mehr überwinden muss. Solche Phasen – kürzer oder länger – gibt es in Konzerten. Dann lässt man etwas aus dem Moment entstehen. Das Publikum kann das dann mögen oder auch nicht, aber dann ist man ein guter Pianist, weil man an seinem Instrument die Freiheit hat, alles, was man will auszudrücken.
Sie haben das Pech – oder das Glück – ein norwegischer Pianist zu sein, und als solcher wird man wohl ständig für das Klavierkonzert des Norwegers Grieg angefragt. Sie leben auch noch Bergen, Griegs Geburtsstadt. Wie nervig ist es, immer nur darauf reduziert zu werden?
Leif Ove Andnses: So schlimm ist das gar nicht. Aber manchmal bin ich überrascht, wenn über mich geschrieben wird: Grieg-Spezialist. Das ist nicht so, ich habe zehnmal mehr Beethoven als Grieg gespielt. Was das Repertoire angeht: Ich mag Grieg, ich fühle mich seiner Musik nah und habe sie schon als Kind gespielt. Doch sie ist nicht so unerschöpflich wie Bach, Mozart, Beethoven, Schubert. Also spiele ich ihn hin und wieder und lege ihn dann wieder beiseite. Sein Klavierkonzert war meine Visitenkarte als 17-Jähriger, das war bei vielen Orchestern mein Debüt-Stück. Mein letztes Grieg-Projekt ist ganz frisch, ich habe gerade Lieder mit der norwegischen Sopranistin Lise Davidsen eingespielt.
Gibt es in Bergen eine örtliche Grieg-Spezialität, wie die Mozart-Kugeln in Salzburg? Ein spezieller Fisch vielleicht?
Leif Ove Andnses: Ein Frosch. Er hatte bei Konzerten immer einen kleinen Keramik-Frosch als Talisman dabei, kein Witz. Den musste er streicheln, das war eine Art Aberglaube. Und solche Frösche werden hier als Souvenir verkauft.
Begann Ihre Karriere als klassisches „Wunderkind“? Ihre Eltern waren Musiklehrer und haben Sie unterrichtet. Wurde der Start dadurch nicht schwieriger? Sie waren immer unter Kontrolle und konnten nie nicht üben.
Leif Ove Andnses: Ich fing mit vier oder fünf an, sie unterrichteten mich die ersten drei, vier Jahre, dann hatte ich einen Lehrer. Ich stamme von einer kleinen westnorwegischen Insel, keiner von meinen Freunden spielte Klavier. Ich hatte also das Glück, aus einer musikalischen Familie zu kommen, sonst wäre ich nie mit dieser Musik in Berührung gekommen. War ich ein „Wunderkind“?! Ich war sehr talentiert, habe Wettbewerbe gewonnen… es war eigentlich ein sehr ernsthaftes Hobby für mich. Ich hatte keine Vorbilder, erst mit 14, 15 Jahren traf ich Berufsmusiker und konnte dann sehen, wie so ein Leben sein könnte.
Wenn es kein Rollenmodell gab, wie lang hat es dann gedauert, bis Ihnen klar war, dass das ihr Weg sein muss?
Leif Ove Andnses: Das habe ich schon nach einigen Jahren gespürt. Sobald ich am Klavier saß, löste das etwas in mir aus. Das Entdecken der Harmonien, der enormen inneren Schönheiten… von da an dachte ich: Okay, das ist mein Leben. Pianist sein wollen? Das kam vielleicht mit 14, als ich meine ersten Klavierabende gab und spürte, dass man mir wirklich zuhörte und dass das gemocht wurde.
Ist es für Sie eine Frage der Ehre oder des Pflichtgefühls, auswendig zu spielen? Oder ist das Druck von außen, weil man mit Noten wirkt, als ob man die Stücke nicht genügend verinnerlicht hätte?
Leif Ove Andnses: Ich respektierte jeden, der mit Noten spielt. Wenn ich zeitgenössische Musik spiele oder komplexe Werke aus dem 20. Jahrhundert, verwende ich meistens die Noten. Warum sollte ich endlose Stunden darauf verwenden, das auswendig zu lernen? Bei manchen Stücken fände ich es etwas sonderbar, aus Noten zu spielen. Bei Klavierkonzerten von Rachmaninow, Grieg oder einigen anderen müsste man etwa alle neun Sekunden umblättern, das würde mich stören. Diese Stücke auswendig zu spielen eröffnet mir Freiräume bei Aufführungen. Aber das ist eine persönliche Entscheidung.
Wie schwer ist es für Sie, Ihre Programm-Ideen, die oft nicht den einfachen Erwartungen entsprechen, bei Veranstaltern unterzubringen?
Leif Ove Andnses: Im Laufe der Jahre ist es einfacher geworden, weil ich inzwischen etablierter bin. Andererseits bin ich momentan etwas pessimistisch, weil Veranstalter sagen: Das ist nicht kommerziell genug, das wird sich nicht verkaufen. Ich vermisse den echten, direkten Dialog, nicht nur über das jeweilige Management. Das ist wirklich eine Schande. Veranstalter, die sich wirklich um neue Konzepte bemühen und Ideen vorschlagen, haben meinen vollen Respekt. Dieses Wollen, diese Wünsche, die mag ich.
Hier in der Elbphilharmonie, aber auch in ähnlichen Sälen wie der Berliner Philharmonie kommt Ihnen das Publikum sehr nah. Mögen Sie das oder ist mehr Sicherheitsabstand angenehmer?
Leif Ove Andnses: Bei großen Sälen denke ich kaum darüber nach und in Berlin oder Hamburg empfinde ich das nicht als einschüchternd. Neulich habe ich im Berliner Boulez-Saal gespielt, sehr rund in alle Richtungen, das war etwas eigenartig. Aber solche Hallen können für Musiker vielleicht etwas unangenehmer sein, aber für das Publikum sind sie wegen der Intimität wunderbar.
Einspringen müssen - oder dürfen - ganz kurz vor Konzertbeginn, ein Klassiker in Virtuosen-Lebensläufen. Was ist Ihnen da schon passiert?
Leif Ove Andnses: Das erste Mal mit dem Mariinsky-Orchester und Gergiev, jemand anderes war krank geworden, ich war 23 oder 24 und musste mich in das 3. Rachmaninow-Konzert werfen, mit einer halben Stunde Probe… Ja, das ist ziemlich aufregend.
Wie lang hat es gedauert, bis Sie nach diesem Auftritt schlafen konnten?
Leif Ove Andnses: An das Schlafen kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber es war für mich die erste Gelegenheit, bei der ich erkennen konnte, wie schnell man eine Aufführung entstehen lassen kann. Einige Stellen anspielen, mehr Zeit war ja nicht. Ok, Rach 3. Das Stück kannte ich und hatte es schon mehrmals gespielt, Gergiev und das Orchester kannten das natürlich, sie kannten nur meine Version noch nicht. Irgendwie bekamen wir aber eine Aufführung hin, die so schlecht nicht war. Darüber war ich sehr überrascht und sehr erfreut.
Wie gehen Sie damit um, wenn Sie bei einem Stück merken, dass sie ums Verrecken den richtigen Zugang zum tieferen Verständnis nicht finden?
Leif Ove Andnses: Meistens gibt es Teile, die man versteht, und andere, bei denen man im Tunnel steckt und das Licht nicht findet. Es gab für mich solche Stücke – Beethovens 5. Klavierkonzert. Eine Riesenfreude, es einzustudieren, dann habe ich es einige Male in Konzerten gespielt, und plötzlich entwickelte ich eine Art Komplex. Mir kam es so vor, als würde ich nur Akkordbrechungen und Tonleitern spielen, und es gibt gar keine Musik. Da war ich etwa 29, hörte auf es zu spielen und musste es neu durchdenken, als ich Jahre später dorthin zurückkam. Ob es Alter oder Erfahrung waren, keine Ahnung. Aber dann dachte ich: Das ist das Größte überhaupt, so viele Freiheiten. Ich musste wohl einfach eine Zeitlang aufhören. Das kann passieren. Manchmal fährt man gegen eine Wand.
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Sie waren schon jenseits der 40, als Sie zum ersten Mal Beethoven-Aufnahmen machten. Da haben andere schon die zweite Runde hinter sich. Kann man für manche Stücke zu jung sein, muss man warten?
Leif Ove Andnses: Man muss das Wagnis eingehen, früh zu scheitern. In meinen Debüt-Klavierabenden, mit 17, habe ich unter anderem späten Beethoven gespielt, op. 110. Und ich erinnere mich an das Gefühl, dass die Musik voller fremder Schönheit war, die ich nicht genügend verstand oder würdigte. Aber ich bin nicht unglücklich darüber, ich bin froh, dass es so war. Daran bin ich gewachsen. Man muss Respekt davor haben und sagen: Ja, ich habe dafür den Schlüssel nicht. Es gab Stücke, denen ich Zeit gab. Beethovens op. 111 fühlte sich wirklich sonderbar an, dem konnte ich mich erst nähern, als ich um die 40 war.
Muss es bei der Auswahl Ihrer musikalischen Partner immer Liebe auf den ersten Blick sein oder ist eine anfängliche Reibung effektiver?
Leif Ove Andnses: Am wichtigsten finde ich starke Persönlichkeiten, von denen ich lernen kann. Kürzlich war ich mit Christian Tetzlaff auf Europa-Tournee, gerade habe ich hier in Bergen mit Matthias Goerne Schuberts „Schöne Müllerin“ und „Winterreise“ gemacht… Total unterschiedliche Charaktere, aber so interessant bei der Zusammenarbeit. Das will ich. Ich will immer wieder herausgefordert werden. Einen Dirigenten, der mir nur sagt: „Keine Sorge, ich folge Dir“, den will ich nicht.
Ist Üben für Sie mit dem tatsächlichen Betätigen von Klaviertasten verbunden oder ist es vielleicht sogar ergiebiger, über die Musik nachzudenken?
Leif Ove Andnses: Alles kann gut sein. Natürlich arbeite ich vor allem am Klavier. Wenn ich mit einer Passage ringe, hilft manchmal, eine Pause zu machen und das Gehirn weiterarbeiten zu lassen. Nachdenken über eine ideale Aufführung, und das nicht am Klavier, ist ebenfalls sehr gut für die Einbildungskraft. Dinu Lipatti hat einmal gesagt, man solle in der Stille der Nacht liegen und sich die perfekte Aufführung eines Stückes vorstellen. Das stimmt. Am Instrument selbst hat man es immer mit den körperlichen Aspekten des Spiels zu tun.
O-Ton Leif Ove Andsnes: „Ein Musiker sollte sich zunächst als Mensch entwickeln, erst danach kann die Karriere beginnen.“ Das ist kompliziert.
Leif Ove Andnses: Zumindest sollte es gleichzeitig passieren. Das ist hart. Wer viel Talent hat, wird früh in diese musikalische Welt geworfen. Diese Industrie liebt die Jugend. Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Für mich als Norweger ist die Natur sehr wichtig, das Erleben der Jahreszeiten. Im Sommer bin ich viel hier, mache Urlaub mit der Familie. Ein kluger Ratschlag ist, seinen Kalender immer so zu verplanen, als ob man eine Familie hätte. Es gibt Opfer dieser Industrie, die keine Zeit mehr für sich selbst haben, um sich zu entwickeln und andere Dinge zu entdecken, andere Künste, Kochen, Trinken... einfach ein Leben zu haben. Man kann Musik nicht mit Inhalt füllen, mit Gefühlen und Charakter, wenn man kein Leben hat.
Was machen Sie als Norweger aus Bergen, wenn Sie weder Konzerte geben noch üben? Wandern, angeln, Holz hacken, in den Nebel sehen?
Leif Ove Andnses: So sehr outdoor bin ich nicht, ich habe ein sehr ausgefülltes Leben. Drei Kinder. Die muss ich zum Fußball-Training bringen oder zum Geigenunterricht. Aber wenn ich etwas Zeit habe, gibt es hier wunderbare Möglichkeiten zum Wandern oder Langlauf. Im letzten Winter hatten wir dafür zwei großartige Monate. Die Pandemie, ich war die ganze Zeit zuhause, da habe ich meine Liebe zum Skifahren wiederentdeckt. Und ich koche gern für meine Familie, das finde ich sehr entspannend.
Sie wurden 2002 zum Komtur des Sankt-Olav-Ordens ernannt. Was bringt das mit sich? Rabatte beim Einkaufen oder nur etwas Beeindruckendes zum Anstecken?
Leif Ove Andnses: Damit ist überhaupt nichts Praktisches verbunden. Ich sollte die Medaille tragen, wenn ich die königliche Familie treffe. Es ist eine sehr schöne Anerkennung, aber für den Bus muss ich nach wie vor selbst bezahlen.
Konzerte: „Mozart Momentum 1785/1786“ 8.11. Mahler Chamber Orchestra. Mozart Klavierkonzerte KV 467 und KV 504 / „Prager“ Sinfonie. 9.11. Klavierkonzerte KV 488 und KV 491 / „Ch’io mi scordi di te“ u.a. mit Christiane Karg. Elbphilharmonie, Gr. Saal. 10.11. Kammermusik und Lieder, mit Chr. Karg. Kl. Saal (evtl. Restkarten). Aktuelle CDs: „Mozart Momentum 1785“ (Sony Classical, 2 CDs, ca. 15 Euro)