Hamburg. Nicolas Stemanns Neuinterpretation des antiken Klassikers gibt den Darstellerinnen die große Bühne. „72 Days“ überzeugt ohne Worte.

Mit dem Rücken zum Publikum stehen Patrycia Ziólkowska und Alicia Aumüller vor der Bühne des Thalia Theaters, bevor sie sie erklimmen, erst als Schwesternpaar Ismene und Antigone, später als Ödipus, Kreon, Iokaste, Tiresias und Chor und viele mehr. Was für eine Ausnahme-Leistung. Welch ein Triumph der Schauspielkunst!

Nicolas Stemanns hochgelobte Sophokles-Verarbeitung „Ödipus Tyrann“ vom Schauspielhaus Zürich ist nun bei den Lessingtagen im Thalia Theater angekommen. An der langjährigen Heimatbühne des Regisseurs, der nun wohl doch die gemeinsame Intendanz in Zürich mit Benjamin von Blomberg wieder verlassen wird.

Thalia Theater: Triumph der Schauspielkunst bei den Lessingtagen

In Hamburg werden er und die beiden langjährigen Ensemble-Mitglieder jedenfalls euphorisch gefeiert. Mit „Ödipus Tyrann“ liefert Stemann eine furchtlos und konsequent aktualisierte Neufassung des antiken Klassikers „König Ödipus“ von Sophokles ab.

Und Ziólkowska und Aumüller verhandeln darin existenzielle Fragen von Schuld, Verstrickung und Verantwortung mit grandioser Körperlichkeit und stimmlicher Perfektion. Schon früh richten sie ihren Finger auf beinahe jeden im Zuschauerraum: „Du bist schuld!“ Immer wieder sprechen sie das Publikum direkt an. Nehmen es mit in einen Krimi der bitteren Erkenntnissuche.

Ziólkowska brilliert als Ödipus mit grandiosem Facettenreichtum

Das Geschehen spielt sich vor maximal reduzierter Kulisse ausschließlich auf der Vorderbühne vor dem eisernen Vorhang ab, der nur ab und zu gelüftet wird, um ein wenig unheilvoll dräuenden Nebel – vielleicht auch einen Orakelspruch – durchzulassen. Die Weissagungen des blinden Sehers Tiresias sind gefürchtet. Es könnte ja doch etwas Wahres daran sein.

Vielleicht liefert er eine Erklärung, warum die von Ödipus beherrschte Stadt Theben heimgesucht wird von Seuche und Dürre. Früh mehren sich die Zeichen, dass Ödipus Schuld daran trägt, doch er will es nicht sehen. Unwissend erschlug er seinen wahren Vater, ehelichte und schwängerte ebenfalls unwissend die Mutter. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf.

Aus dieser schwierigen Wahrheitssuche schlagen nun Aumüller und Ziólkowska spielerische Funken. Wie sie sich die – durchaus auch mal kabarettistischen – rhetorischen Bälle zuwerfen, ist die reinste Freude. Ziólkowska brilliert vor allem als Ödipus mit dem grandiosen Facettenreichtum ihrer Stimme, wenn sie alle emotionalen Stufen der Verzweiflung, aber auch der Machtberauschtheit, durchdekliniert.

Beide glänzen mit einem synchron gesprochenen Chor

Aumüller steuert als Iokaste meist rationale Überlegungen bei und ist ihr eine ebenbürtige Gefährtin bei diesem Text-Marathon, für den sich die Performerinnen nicht ohne Grund mit Sneakers unterm schlichten schwarzen Kleid wappnen. Beide glänzen mit einem synchron gesprochenen Chor. Und weil „Der Mensch“ am Ende mit gleißendem Licht als Schuldiger entlarvt wird, entfaltet dieser „Ödipus Tyrann“ bei aller Reduktion eine gewaltige Kraft.

Wo Stem ann grandios auf die Wirkungsmacht des Wortes und des Spiels setzt, vertraut das estnische Theaterduo Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo in ihrer Performance „72 Days (72 päeva)“, die ihre Deutschlandpremiere im Thalia in der Gaußstraße erlebte, ganz dem Bild und dem Körper. Das Regie-Duo hat auch eine Zeit lang am Thalia Theater inszeniert. Den stärksten, radikalsten Eindruck hinterließen aber schon immer ihre Gastspiele.

„72 Days“ ist eine radikale, wortlose Installation der Körper

Ineinander verknäuelte junge Frauen räkeln sich am Boden. Bald erheben sie sich, streifen Reifröcke über und nehmen auf einer Bank zur getragenen klassischen Musik gemäldeartige Posen an. Auch „72 Days“ beruht auf einer konsequent durchdeklinierten Idee. Einer wortlosen Installation der Körper, die durch die Jugend der Performenden von Träumen, Sehnsüchten, auch von Enttäuschungen in einer krisenhaften Zeit erzählt. Lose verbunden mit der Dauer einer Reise um die Welt, die die amerikanische Journalistin Nelly Bly 1889 auf den Spuren von Jules Verne unternahm.

Bald tragen die Performerinnen aus dem Hintergrund sackweise Kleider und Objekte auf die Bühne, streifen sich Kleidungsstücke über und nehmen weitere Posen ein, nun aber als Polizistinnen, Geflüchtete mit Baby auf dem Arm, Soldatinnen auf Stöckelschuhen, Verzweifelte mit zum Schrei geöffnetem Mund, Feierwütige und Lebenshungrige im Glitzerfummel. Die von Jakob Juhkam und Raido Linkman kreierte Musik beginnt leise zu wummern und steigert sich von Deep House langsam zu Techno.

Das Ensemble transportiert diese Figuren mit eindrucksvoller, exakt ausgeführter, wortloser Geschäftigkeit. Mangels weiterer Entwicklung wirkt der Abend irgendwann allerdings etwas ermüdend. Wenn am Ende Kleider, Objekte und Performende in einem gigantischen Setzkasten-Regal verräumt sind, ergibt sich jedoch ein schönes geordnetes Bild in einer von Chaos geprägten Zeit.

„Um alles in der Welt – Lessingtage 2023“ bis 12.2., Thalia Theater und Thalia Gaußstraße, Infos unter www.Thalia-theater.de