Hamburg. Regisseur Stölzl präsentiert in der deutschen Erstaufführung von „Der lange Schlaf“ ein radikales Mittel gegen die Apokalypse.

Theaterschlaf ist der gesündeste. Heißt es ja manchmal. So gesehen ist es doch ein feiner Zug, dass das Programmheft im Deutschen Schauspielhaus einen Türhänger, wie man ihn in Hotels findet, zum Ausschneiden anbietet.

„Bitte nicht wecken bis...“ steht darauf und dann folgen Ankreuzoptionen: „...bis der Messias kommt, bis der HSV wieder in der ersten Liga spielt, bis der ganze Scheiß vorbei ist, bis Olaf Scholz sich wieder erinnern kann“. Wenn man es genau nimmt, alles ganz schön optimistisch, schließlich geht es in der deutschsprachigen Erstaufführung von Finegan Kruckemeyers „Der lange Schlaf“ nur um ein auf ein Jahr begrenztes Koma.

„Der lange Schlaf“: Die alltägliche Apokalypse

Aber bei aller Lust am Spielerischen und (Selbst-)Ironischen: Optimismus braucht es womöglich tatsächlich, wenn man ernsthaft noch ans Überleben des Planeten Erde glauben soll. Wie krass es um den steht, führt Regisseur Philipp Stölzl seinem Publikum mit einer so simplen wie drastischen Endzeit-Bildershow noch einmal vor Augen: Waldbrände, Dürren, Überschwemmungen, Erdrutsche, Orkane, vermüllte Küsten und Meere, knappe Ressourcen. Die alltägliche Apokalypse.

Alles plakativ, klar, aber alles eben auch längst real. Szenen, die sich kein Bühnenbildner mehr ausdenken und kein Regisseur groß überdrehen muss, die man auch als Zuschauerin und Zuschauer nur zu gut kennt und vermutlich so aktiv ignoriert wie einige der Figuren, die uns der australische Dramatiker Finegan Kruckemeyer in seiner düsteren Versuchsanordnung vor Augen führt.

Flucht auf den Mars weniger absurd als die Weltrettung

„Wir konnten nicht sehen, dass was nicht stimmte. Also schlossen wir die Augen. Damit wir nicht sehen konnten, dass was nicht stimmte“, spricht Lina Beckmann den Prolog ganz schlicht, in seiner sparsam dosierten Verzweiflung ergreifend, direkt ins Publikum. Erzählt vom Wunsch, dem eigenen Kind eine Zukunft zu hinterlassen und stattdessen immer mehr in der Vergangenheit zu verharren: „Früher wurde zum Bestimmungsort. Nostalgie. Früher. Damals. (...) Du wirst nie ein Pferd sehen. Oder auf einen Baum klettern. (...) Ich zeige dir die Filme, die ich als Kind so mochte. Ich werde wach im Bett liegen und an die Decke starren.“

Wobei es auf der Bühne bald schon um die gegenteilige Lösung geht, eine Rettung vor dem Weltuntergang (und vor der stattdessen angestrebten Flucht auf den Mars, die hier im Vergleich lustigerweise als weniger absurd begriffen wird), so simpel wie radikal: Tiefschlaf. Gute Nacht, Menschheit.

Narkosegas schickt die Erdbevölkerung in eine Auszeit

„Um das Überleben unseres Planeten zu sichern, dürfen wir nur eines tun: nichts“, glaubt Emily, die Sandra Gerling als kompromisslos coole Aktivistin gibt, die keine Lust mehr hat auf von ihr erwartete weibliche Rollenmuster. Bei den Lockdowns der weltweiten Corona-Pandemie hat Emily ganz genau hingesehen.

Ihre Strategie verkauft der ambitionierte australische Weltraumminister, den Samuel Weiss als smarte Parodie des überheblich-männlichen Politikertypus gibt („In drei Stunden steht China vor der Tür!“), schließlich der Welt erfolgreich als seine eigene: Durch ein Narkosegas wird die gesamte Erdbevölkerung in eine Auszeit befördert, die Natur soll sich erholen. The Great Reset, alles auf Anfang. Erst Augenöffnen, dann Einschläfern.

„Der lange Schlaf“ kommt nicht ohne Klischees aus

Die ausgelösten Diskussionen kommen einem natürlich vertraut vor. Wie sehr darf der Staat in die Selbstbestimmung eingreifen? Was wiegt schwerer – die Freiheit des Einzelnen oder das Überleben der meisten? Wie selbstgerecht ist überfälliger Aktivismus?

Ein globales Projekt, für das Stölzl gemeinsam mit Bühnenbildnerin Franziska Harm neonleuchtend eingefasste Schaukasten entworfen hat, die auf der Drehbühne rotieren und – immer wieder kommentiert von zwei amerikanischen Anchorwomen – einen Einblick in diverse Familienkonstellationen erlauben.

Das Karussell zur weiten Welt: das schwule Pärchen in Bogotá, die sorgenden Eltern in Nigeria, das kleine Mädchen und ihr Papa in Tadschikistan, der Jungreporter im Hipstercafé. Alle bereiten sich auf den Winterschlaf vor, ohne Klischees geht das Ganze nicht über die Bühne.

Dystopie als gegenwärtige „Dornröschen“-Variante

Von Ferne erinnert die Dystopie, die schon 2021 Uraufführung im australischen Adelaide feierte, an José Saramagos „Die Stadt der Blinden“. Nur ist sie hier viel weniger brutal, viel weniger roh oder schonungslos. Auch ist sie, wenn man sich an die existenzielle Entschlossenheit von Kay Voges’ Saramago-Inszenierung am Schauspielhaus erinnert, mit viel weniger theatralem Formwillen auf die Bühne übersetzt.

Im Grunde erzählen Kruckemeyer und Stölzl, ergänzt um den Soundtrack eines Live-Orchesters am Bühnenrand, eine Art Märchen, eine gegenwärtige „Dornröschen“-Variante. So muss man es wohl auch verstehen, um nicht auf die Suche nach logischen Schwächen zu gehen (Was geschieht mit den Atomkraftwerken, wenn keiner mehr wach ist? Warum hat die kolumbianische Mutter einen Akzent, wenn sie mit ihrem Sohn spricht?). Ein Märchen minus Happy End, denn natürlich ist auch hier vor allem das Scheitern interessant. Der Schlaf bringt nicht nur die Korallen zurück und die Pflanzen ans Tageslicht, sondern „den Abschaum eben auch“.

„Team Insomnia“ ist ein absoluter Höhepunkt

Und das Zwangsnickerchen trifft nicht alle: Pete (neu im Ensemble und ein Gewinn: Mehmet Ateşçi) und Maggie haben künstliche Lungen, die das Narkosegas nicht aufnehmen. Die ausführliche Kennenlernszene dieses „Team Insomnia“ ist ein absoluter Höhepunkt. Zum einen, weil einem hier endlich Menschen begegnen, nicht nur anekdotenhaft in die Leben hineingezappt wird. Zum anderen, weil vor allem Lina Beckmann als Maggie so unglaublich hinreißend, creepy und lustig ist, dass man gar nicht anders kann, als sich beim Zusehen in diese Figur zu verlieben. Überhaupt ist das Ensemble ein echter Genuss, Matti Krause und Daniel Hoevels gleich in diversen Rollen, Josef Ostendorf als bärbeißige Seniorenheimbewohnerin.

Großer Applaus, Glieder strecken, Augen reiben – und Feierabend, raus, zurück zum vertrauten Kollaps. Bitte nicht wecken, bevor der ganze Scheiß vorbei ist.

„Der lange Schlaf“ wieder am 24.1., 1.2., 5.2., jew. 19.30 Uhr, Deutsches Schauspielhaus (U/S Hauptbahnhof), Kirchenallee 39, Karten unter T. 248713 und www.schauspielhaus.de