Hamburg. Ein Pianist, der die Zeit aufhebt: Daniil Trifonov gab in Hamburg ein Konzert, das nicht von dieser Welt schien. Hier ist die Kritik.

Irgendwie vertraut, aber dann auch wieder nicht. „Kinderalbum“ ist der Zyklus überschrieben, mit dem Daniil Trifonov seinen Abend bei ProArtes „Meisterpianisten“ in der Laeiszhalle eröffnet. Der Titel erinnert an Robert Schumanns „Album für die Jugend“. Aber dieses Album ist von Tschaikowsky und weniger bekannt: eine Reihe von Miniaturen, in ihrer Einfachheit zutiefst berührend.

Wenn Trifonov, berühmt geworden als Meister des ganz schweren Fachs, diese Stückchen an den Anfang seines gut zweistündigen Recitals setzt, dann entfaltet das im Verlauf des Abends immer mehr dramaturgische Wirkung.

Daniil Trifonov: Ein leider sehr unruhiges Publikum

Auf seiner Reise durch die Welt des kindlichen Staunens hebt der Pianist die Zeit auf. Ohne Umschweife und ohne jegliche Äußerlichkeit versenkt er sich in die Atmosphäre eines Wintermorgens mit zarten Seufzermotiven und bezieht das – leider sehr unruhige – Publikum unmittelbar ein; er lässt hölzerne Soldaten marschieren, alles im Pianissimo, einschließlich des Trommelwirbels; und „Püppchens Begräbnis“ ist größte Trauer auf kleinstem Raum.

Einen scharfen Kontrast zu dieser Innerlichkeit bildet Robert Schumanns Fantasie C-Dur mit ihren herrischen Gesten und Verzweiflungsausbrüchen. Trifonov kostet das filigrane Blattwerk, dass sich im Untergrund unablässig zu bewegen scheint, keinerlei Mühe. Vollendet abgewogen ist das Verhältnis der unterschiedlichen Stimmen in ihren Funktionen, und immer hat er noch eine weitere Piano-Nuance, noch eine weitere Klangfarbe parat.

Daniil Trifonov zelebriert scheinbar Nebensächliches

Es ist natürlich kein Zufall, dass nach der Pause gleich noch eine Fantasie folgt, dieses Mal von Mozart und in c-Moll. Sie ist gewissermaßen das Kraftzentrum dieses ungewöhnlichen Programms. Auch hier führt Trifonov vor, dass der Begriff Virtuosität von „Tugend“ kommt, wenn er selbst für etwas scheinbar Nebensächliches wie die Achtelrepetitionen im Untergrund einen ganzen Fächer an unterschiedlichen Artikulationsweisen öffnet. Es geht nicht darum, horrende spieltechnische Fähigkeiten auszustellen, sondern um den Gehalt dieses zwischen Schroffheit und Sanglichkeit wechselnden, hochkonzentrierten Werks.

Mit Ravels „Gaspard de la nuit“ hat er eins der schwersten Werke für Klavier aufs Programm gesetzt. Über das Tongewimmel, die wehenden Schleier und Glissandi im ersten Satz kann man nur staunen, aber noch mehr darüber, wie selbstverständlich Trifonov den Hauptgedanken im Blick behält. Erst allmählich dringt das beharrliche Klingen der Totenglocke im zweiten Satz „Le Gibet“ (Der Galgen) ins Bewusstsein. Und im gefürchteten dritten Satz „Scarbo“ entfesselt Trifonov dann alles an Fingerkunst, was Ravel so einfiel.

Großer Jubel für Trifonov in der Laeiszhalle

Den Schlusspunkt des Programms bildet die Klaviersonate Nr. 5 von Alexander Skrjabin. Unter Trifonovs Fingern schäumt und wütet sie, dann wieder wirkt sie verloren und durchscheinend zart, bestehend nur aus Lasurschichten. Ein Abbild der Welt, ein großes Rätsel.

Für den Moment dieses Konzerts scheint es keine Welt außerhalb der Musik zu geben. Großer Jubel.