Hamburg. Die Symphoniker Hamburg unter Sylvain Cambreling spielen Silvester und Neujahr in der Laeiszhalle – ein Konzert mit Überraschung.

  • Die Symphoniker Hamburg spielen an Silvester und Neujahr in der Laeiszhalle Ludwig van Beethovens neunte Sinfonie („Freude schöner Götterfunken“)
  • Mit der Interpretation des berühmten Werks irritiert das Orchester unter der Leitung des Dirigenten Sylvain Cambreling beim Silvesterkonzert Teile des Publikums
  • Es gibt Buh- und Pfui-Rufe, einige Zuschauer verlassen sogar den Saal. Am Ende kann ein Eklat verhindert werden, die Symphoniker ernten Standing Ovations

Lesen Sie hier die Kritik zum Silvesterkonzert in der Laeiszhalle:

Traditionen sind wichtig. Sie erinnern, woher man kommt. Sie sind vertraut, sie geben Halt. Die Tradition, Beethovens neunte Sinfonie zu Silvester und/oder zu Neujahr zu spielen, musste im letzten Jahr Pandemie-bedingt ausfallen. Vielleicht bekamen die Symphoniker Hamburg bei ihrem Silvesterkonzert unter ihrem Chef Sylvain Cambreling deshalb schon vorab, als sie auf die Bühne der Laeiszhalle kamen, so viel Applaus. Am Ende gab es Standing Ovations. Und doch, es gab auch ein paar Buhs.

Dabei hatte man doch nur gewagt, die weltumspannende Botschaft von Beethovens Neunter – eine Art von Göttlichkeit der Schöpfung (Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen) – und die Idee von „Alle Menschen werden Brüder“ etwas unkonventionell zu akzentuieren.

Symphoniker überraschen mit Beethoven-Impro

Sylvain Cambreling ging den immerhin 15-minütigen ersten Satz mit viel Gespür für architektonische Balance an, vom suchend-schwebenden Anfang über die ständig pulsierende Unruhe bis zu den apokalyptischen Infernostellen. Den zweiten, Presto-Satz, nahm er energisch und gab ihm tänzerischen Puls.

Und dann kam die vorab schon geheimnisvoll angekündigte Überraschung. Es schloss sich nicht gleich das mit seinen Bläserfarben und verschlungenen melodischen Linien so innige „Adagio molto e cantabile“ an. Nein, plötzlich erhoben sich mitten aus dem Orchester Saxofonist Fabrizio Cossol und Sopranistin Claron McFadden und improvisierten.

Laeiszhalle: Buh- und Pfui-Rufe aus dem Publikum

Text konnte man nicht verstehen, es gab archaische Melismen, ein bisschen orientalisch, ein bisschen klagend. Ok, warum nicht, es hatte Intensität, es dauerte nicht lang. Als die beiden gegen Ende des dritten Satzes wieder ansetzen, gab es Missfallensäußerungen im Publikum – leise Buh- und Pfui-Rufe, aber auch Bravos. Einige verließen sogar den Saal.

Und dann sprach die Sängerin noch – nicht alles war verständlich – , von „humanity“ und „exist together“, also ungefähr: Menschlichkeit passiert nur gemeinsam. Das, was Schiller und Beethoven auch meinten.

„Freude, schöner Götterfunken“ verhindert Eskalation

Die Gemüter beruhigten sich, ein Eklat war es nicht. Man wusste eigentlich schon, dass Saxofon und Sopran sich am Ende, mitten in dem so affirmativen Schluss mit dem flehenden und hämmernden „Freude, schöner Götterfunken“ nochmal melden würden. Tatsächlich, aber nur eine kurze Unterbrechung. Sonst hätte die Situation vielleicht eskalieren können.

Im brausenden Applaus nach dem Schlussakkord konnte man die Buhs deutlich hören, doch die Begeisterung über die kernige Aufführung überwog. Cambreling kennt seinen Beethoven genau und weiß, was er will. Es gelang ihm den gewaltigen Schlusssatz mit dem (Carl-Philipp-Emanuel Bach-) Chor nicht martialisch klingen zu lassen, aber trotzdem kraftvoll. Und ein gutes Solistenquartett hatte er auch (eindrücklich besonders: Bassist Tobias Schabel). Braucht Beethovens Neunte dieser Art Überraschung? Eigentlich nicht. Aber dennoch: man gerät ins Grübeln, und das ist nicht das Schlechteste.