Hamburg. Charlotte Sprenger weckt die Dämonen der Nacht. Die Schauspieler glänzen. Doch der Abend ist trotzdem nicht sehr zugänglich.
Tastend bewegt sich Merlin Sandmeyers Nathanael aus dem Zuschauerraum auf die Bühne des Thalia Theaters. Bald steht er in einem schummrig erleuchteten Ballsaal, der eher den Glamour einer Schul-Aula versprüht. Eine dreiköpfige Band nimmt auf einer kleinen Bühne ihre Plätze ein. Doch die blauen runden Tische und die Klappstühle bleiben zunächst verwaist.
Ein finster dreinblickender Kellner trägt Gläser zum Buffet. „Ich kenne Sie“, sagt Sandmeyer. Doch der von ihm Angesprochene leugnet die Bekanntschaft. „Sie sind eingeladen“, versichert er immerhin. Es klingt eher wie eine Drohung, eine Anspielung an die sich ständig wiederholenden Schrecken der Nacht. Schließlich bricht in die vermeintlich harmlose Realität nach und nach der Horror ein.
"Der Sandmann" am Thalia Theater
Mit zehnmonatiger pandemiebedingter Verspätung gelangt „Der Sandmann“ von Anna Calvi und Robert Wilson endlich zu seiner Premiere am Thalia Theater. Dieser „Sandmann“ ist kein Märchenonkel, der einen sanft in den Schlaf plaudert. Er ist ein „böser Mann“, ein Finsterling, der Kindern, die nicht schlafen wollen, die Augen herausreißt. Die Phantome des Unbewussten belebt er wieder – und wenn man nicht aufpasst, führen sie direkt in den Wahnsinn führt.
Der US-amerikanische Bühnenmagier Wilson hat sich mit der tollen britischen Neo-Blues-Musikerin Anna Calvi zusammengetan, um das Schauermärchen von E.T.A. Hoffmann neu zu beleben. Regie führt der Altmeister hier allerdings nicht selbst: Regisseurin Charlotte Sprenger probiert sich mit dem Stoff erstmals auf der großen Bühne aus.
Sie beherrscht ihr Handwerk, vermeidet – bis auf viel blaues Licht – jede Anspielung auf die typisch surreal-expressive Wilson-Ästhetik, interessiert sich aber eher für Show- und Revue-Szenen als für eine Auslotung des Unbewussten und die (Un-)Tiefen der Romantik Hoffmanns.
Merlin Sandmeyer überzeugt als Nathanael
Als Nathanael überzeugt der biegsame, durchlässige Merlin Sandmeyer, überschlägt sich beim Sprechen, wird dann wieder beängstigend ruhig. Seinen Schmerz und seine Verzweiflung, wie auch seine Zartheit verwandelt er in Musikalität. Die rettet ihn allerdings nicht vor den Dämonen seiner Kindheit: des bösen Sandmanns, des Anwalts Coppelius, der mit seinem Vater einst alchemistische Versuche unternahm, die für diesen tödlich endeten, und des Wetterglashändlers Giuseppe Coppola.
André Szymanski spielt all diese Figuren des Bösen mit verhärmter Miene, eleganten, schlangenartigen Bewegungen und viel Geheimnis. Doch es dauert, bis auf der Bühne überhaupt etwas geschieht und auch dann geht es kaum voran. Konsequent verweigert sich der Abend einer leichten Zugänglichkeit. Es bleibt offen, ob Nathanael wirklich einem Wahnsinn erliegt, der in seinem Innersten entsteht, oder ob ihn eine ignorante Umwelt dazu bringt.
Roboterpuppe Olympia verzückt Nathanael
Immerhin gesellen sich in diesem seltsamen, von Aleksandra Pavlovic geschaffenen Ballsaal irgendwann die Figuren aus Nathanaels Leben hinzu. So begegnet er der von Gabriela Maria Schmeide gespielten Mutter, die ihm den Sandmann näherbringt. Und auch den von der Mutter aufgenommenen Geschwistern Clara (Toini Ruhnke) und Lothar (Pascal Houdus). In die von Ruhnke kapriziös gegebene, eher schnippisch-spröde Clara, verliebt er sich zunächst, doch noch viel mehr verzückt ihn bald die Tochter des Professors Spalanzani, die Roboterpuppe Olympia, ebenfalls gespielt von Toini Ruhnke.
Die psychoanalytische Deutung, die im Verlust der Augen beziehungsweise des Sehens durch den Sandmann ein „Äquivalent zur Kastration“ erkennt, bleibt hier dem Kindheitstrauma vorbehalten. Die Liebe hat bei diesem Ich-Verlust keine Chance. Szymanski trägt als Kellner eine blaue Kiste durch den Saal, die an den US-Filmemacher David Lynch und seinen Film „Blue Velvet“! erinnert. Auch daran, dass für Lynch und wohl auch für Wilson der Horror vor allem dazu dient, die herrschenden bürgerlichen Verhältnisse zu kritisieren.
Musik füllt spürbare Leere in der Inszenierung
Die allzeit spürbare Leere in dieser Inszenierung füllt dann vor allem die Musik. Philipp Plessmann, der auch die musikalische Leitung übernimmt, intoniert live am Keyboard, begleitet von Theresa Stark am Schlagzeug und dem ehemaligen Franz-Ferdinand-Gitarristen Nick McCarthy. Aus dem schönen, rauchigen Düsterblues machen sie überwiegend soft dahingeorgelte Retro-Arrangements.
Die traumartige Atmosphäre potenziert sich ins Somnambule. Die beiden besten Songs, in denen entschiedene Gitarren zu hören sind, „Sleep On“ und „Hurricane“, erlangen dadurch eine noch größere Wucht.
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"Der Sandmann" am Thalia Theater: Abend bleibt unzugänglich
Abgesehen von diesen wirklichen Höhepunkten wabert die Inszenierung ein wenig richtungslos dahin – wie ein verrätselter Traum. Es vermittelt sich nicht, weshalb Nathanael die Anwesenden zu seiner eigenen Beerdigung begrüßt, mehrere in Blau gekleidete Kinder die Bühne bevölkern und die Band auf einmal in etwas albernen Fantasie-Kostümen auftritt. Bevor Nathanael auf einem gigantischen Schachpferd aus dem Wahnsinn ins Nichts reitet.
Das Gegensatzpaar Sandmeyer und Szymanski liefert spielerisch und gesanglich wirklich glänzend ab. Pascal Houdus hat als Claras Bruder Lothar und Nathanaels Kommilitone Siegmund grimassierend und sich am Boden verrenkend einige undefinierbare Gefühlsausbrüche. Toini Ruhnke verleiht dem Automaten Olympia eine überzeugend seelenlose Künstlichkeit. Und Gabriela Maria Schmeide destilliert aus jeder noch so kleinen Nebenrolle große Momente.
Für E.T.A. Hoffmann gehörte der Wahnsinn zum Menschen dazu. Hier wird der Zusammenhang mit einem problematischen sozialen Geflecht zumindest angedeutet. Unzugänglich bleibt der Abend trotzdem.
„Der Sandmann“ wieder am 10.1., 20 Uhr, 15.1., 17 Uhr, 22.2., 20 Uhr, 28.2., 20 Uhr (teilweise nur Restkarten), Thalia Theater, Alstertor, T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de