Hamburg. „Silvesternacht“ basiert auf einer Novelle von E.T.A. Hoffmann. Da geht es bisweilen ganz schön gruselig zu.

Kaum ein anderer als E.T.A. Hoffmann hat uns besser gelehrt, wie unwirklich die Wirklichkeit sein kann, in der wir meinen zu leben. In seinen Geschichten und Märchen verschwimmen die Grenzen zwischen Einbildung und Gegenwart, zwischen Magie und natürlicher Erscheinung.

Er ist der Schöpfer nicht nur des frühen Surrealismus, des Fantasy- und auch des Gruselromans, er zeigte schon vor 200 Jahren, in welche Abgründe eine tiefenpsychologische Reise in unser Inneres führen kann und dass wir durchaus Gefahr dabei laufen, schnell den Boden unter den Füßen zu verlieren.

„Silvesternacht“: Es ist nicht leicht, den hochkomplexen Stoff zu verdichten

Das geschieht auch dem Protagonisten in Hoffmanns früher Novelle „Die Abenteuer der Sylvesternacht“, die den in Hamburg geborenen Komponisten, Pianisten und Dirigenten Johannes Harneit zu seiner Kammeroper „Silvesternacht“ angeregt hat. Ein Auftragsstück der Hamburgischen Staatsoper nach einem Libretto von Lis Arends, am Donnerstag an der Opera stabile unter Harneits Leitung uraufgeführt. Und obwohl der Stoff alles andere als leicht zu verdichten und auf eine kleine Bühne mit wenigen Requisiten zu bringen ist, gelingt ein hochdramatischer Abend, der oft mit ganz wenigen Mitteln eine enorme Wirkung erzielt.

Es fängt schon damit an, dass das Orchester nur aus Geige, Bratsche, Kontrabass, Harfe, Flöte und Posaune besteht, der Komponist während des Dirigierens selbst die Celesta spielt und die junge Schlagzeugerin Lin Chen sowohl szenisch aktiv ist als auch Gläser, Dosen und Metallflächen anschlägt, die in einem geöffneten Kühlschrank stehen. Faszinierend, wie die junge Künstlerin sich zwischendurch wie zufällig einen Topfdeckel schnappt oder ein an der Wand hängendes Becken zum Klingen bringt und auch hinter der Bühne auf scheinbar allem Klänge erzeugt, was die zauberhafte Atmosphäre illustriert.

Peter Galliard als "Der Große" bringt Unglück der Figur packend zum Ausdruck

Zu Beginn des Stücks bei einem Silvesterfest im Haus eines Politikers verliert der von Nicholas Mogg fantastisch dargestellte und mit umwerfendem Ausdruck gesungene Enthus in der Wiederbegegnung mit seiner alten Liebe Angela die Contenance und eilt lieber in eine Kellerkneipe, wo er, wie Hoffmann es auch gern tat, weiter trinkt und seltsamen Gestalten begegnet. Diese sind dem Publikum zwar auch schon im ersten Bild begegnet, entfalten ihre schauerliche Bedeutung als Doppelgänger des armen Enthus oder als vom teuflischen Anywhere (markig von Tigran Martirossian gesungen) verführter Lebemann, der seinen Schatten verkauft hat, erst allmählich.

Peter Galliard als „Der Große“, der Zigarre paffend und saufend sein Leben genießt und immer eine volle Börse als Lohn für seinen Schatten erhalten hat, bringt das Unglück, aber auch die Unheimlichkeit dieser Figur stimmlich wie schauspielerisch packend zum Ausdruck.

Mart Van Berckel lässt Traum- und Wirklichkeitsebenen verschwimmen

In dem von Florian Panzieri gesungenen „Kleinen“ muss Enthus in seinen späteren Traumbildern sich selbst erkennen, einen von Liebe hin- und hergerissenen „reisenden Enthusiasten“, wie Hoffmann seine Hauptfigur bezeichnet, der den Verführungen des Teufels verfällt und alles verliert. Panzieri entwickelt in dieser Rolle eine Dramatik und eine Stimmgewalt, die die Opera stabile recht zum Beben bringt.

Geschickt lässt der Regisseur Mart Van Berckel mit Unterstützung der Bühnenbildnerin Vera Selhorst und dem Kostümbildner-Duo Maison The Faux die Traum- und Wirklichkeitsebenen immer weiter verschwimmen, bis der in einem Hotelbett eingeschlafene Enthus erwacht und glaubt, alles nur geträumt zu haben. Aber auch diese Illusion zerstört die großartige Gabriele Rossmanith als Hotelwirtin sogleich wieder, womit alles ein offenes Ende hat.

"Silvesternacht": Bezug auf Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“

Johannes Harneit, der am 16. März seinen 60. Geburtstag feiert, hat seine Partitur mit etlichen Zitaten gespickt, die in Hoffmanns Zeit zurückverweisen, aber auch Bezug auf Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ nehmen. Im ersten Bild lässt er den brillanten Pianisten Robert Jacob als Hoffmann-Zeitgenossen Luigi Berger auftreten, ein Stück von Muzio Clementi oder Bergers Goethe-Vertonung „Trost in Thränen“ spielen und konterkariert diese Elemente mit harten Posaunen- und Streicherakzenten sowie wirbelnden Piccoloflöten-Soli. In den Traumszenen wird das Thema von Offenbachs „Barcarole“ zu einem tragenden Element und erlebt seinen Höhepunkt in einem Quartett, wo die Männer im Falsett singen und Marie-Dominique Ryckmanns als Sophia und Ida Aldrian als Angela noch einmal in Hochform geraten, nachdem sie sich zuvor schon in etlichen Koloraturen hatten beweisen müssen.

Gerade die Frauen lässt Regisseur Mart Van Berckel zuweilen auch von der Galerie der Opera stabile aus singen, was zur Erweiterung der Traum- und Wirklichkeitsräume dieses Stoffes nicht unwesentlich beiträgt. Harneits und Arends „Silvesternacht“ jedenfalls ist unterhaltendes Musiktheater bester Qualität, das nachdenklich stimmt und Hoffmanns Welt und Denken in allem gerecht wird.

„Silvesternacht“ weitere Vorführungen vom 7. bis 9.1. und vom 13. bis 15.1., Opera Stabile, Kleine Theaterstraße, weitere Infos und Karten unter: staatsoper-hamburg.de