Hamburg. Ursina Tossis aufwendige Choreografie „Swan Fate“ wird auf Kampnagel zu einem Höhepunkt des Hamburger Theaterjahres.

„Wenn ihr Lust habt, zu tanzen, dann zieht einfach die Schuhe aus und kommt auf die Tanzfläche.“ Ursina Tossi ist gut darin, einen angenehmen, umarmenden Rahmen zu schaffen: Elektronisch verfremdete Walzerklänge ziehen durch die Kampnagel-Halle (Musik: Pjotr Iljitsch Tschaikowski und CocoRosie), das Licht ist gedimmt.

Ein paar Zuschauer suchen ihre Plätze, ein paar trauen sich auf die Bühne und walzern sich mit Tossis zehnköpfigem Ensemble in Stimmung, freundlich, unsicher, ohne Druck. Und schon ist man Teil von „Swan Fate“, dem jüngsten, wahrscheinlich großformatigsten Stück im mittlerweile umfangreichen Portfolio der Endvierzigerin.

Die Choreografin füllt den Klassiker „Schwanensee“ mit neuer Bedeutung

Tatsächlich aber erweist sich der Publikumseinstieg als kaum verbunden mit dem eigentlichen Stück; als das Licht im Saal verlöscht, müssen die tanzenden Zuschauer die Bühne verlassen, von nun an gehört die Szene den Profis. Zwei riesige Lampions senken sich auf den glänzenden Tanzboden, Monde, die sich im nächtlichen Teich spiegeln (Bühne: Raphaela Andrade), und Victor Gonzales und Chetan Yeragera tanzen einen Pas de deux, berührend, sanft, in klassischer Perfektion.

Nur dass hier eben zwei männlich gelesene Körper agieren, das verschiebt die traditionelle Anmutung der Passage ein wenig. Die Choreografin nähert sich so dem Repertoireklassiker „Schwanensee“, aber sie verschiebt die Motive und füllt sie mit neuer Bedeutung.

Kampnagel: Wenn bei „Schwanensee“ geknurrt und gehechelt wird

Dass das klassische Ballett, für das „Schwanensee“ wie kein anderer Stoff steht, ein traumatischer Ort sein kann, hat sich mittlerweile herumgesprochen: Mobbing, Drill und schwarze Pädagogik an Ausbildungsstätten von Berlin bis Zürich haben den Ruf der Kunstform beschädigt, plötzlich geht es im Ballett um zugerichtete Körper und gebrochene Charaktere.

Die Gewaltstrukturen dieser Welt werden auch im Tanz selbst thematisiert, zum Beispiel in den höhnischen, bösen Arbeiten Florentina Holzingers, die häufig auf Kampnagel zu sehen sind. Ursina Tossi arbeitet ähnlich wie Holzinger, allerdings in freundlich: Sie weiß um die zerstörten Persönlichkeiten, die ein Ballett wie „Schwanensee“ mit sich bringt, aber sie kennt auch die überirdische Schönheit des Tanzes. Und diese Schönheit möchte sie nicht aufgeben.

„Swan Fate“ wird zu einem Höhepunkt des Hamburger Theaterjahres

Ihre Lösung ist, dass sie den Körper als utopischen Ort definiert: als Ort, an dem Lust, Verausgabung und Ästhetik möglich sind, im Sex ebenso wie im wilden Jagen. Hier nähert sich die Choreografin einem Motiv an, das auch schon in älteren Arbeiten wie dem Werwolf-Tanz „Blue Moon“ oder dem Kinderstück „FUX“ auftauchte: dem Kreatürlichen, das sich in Knurren und Hecheln äußert. Allerdings ist Tossi nicht naiv, „Swan Fate“ beschränkt sich nicht auf ein harmloses „Wir müssen uns nur alle berühren, und alles wird gut“.

Die Lust kann umschlagen in Aggression, das Gelächter in Weinen. Und wieder zurück. Und manchmal alles gleichzeitig. Wie geschickt das Stück diese Gleichzeitigkeit von positiver und negativer Emotion arrangiert, das macht den Unterschied aus zwischen einer interessanten „Schwanensee“-Variation und einem wirklich großen Abend.

Was sich mittlerweile in Tossis Arbeit verfestigt hat: der künstlerische Einsatz von Zugangsmechanismen. Die Audiodeskription, also die akustische Beschreibung dessen, was zu sehen ist, ist bei Tanzproduktionen oft ein nur halbwegs taugliches, via Kopfhörer übertragenes Hilfsmittel. Von René Reith wird sie selbstbewusst per Lautsprecher in den Saal gesprochen. Und der von Geburt an gehörlose Tänzer Dodzi Dougban vermittelt Passagen in Gebärdensprache, was eine ganz eigene Form von Choreografie entstehen lässt.

Vor allem sorgen diese Mechanismen für eine Intimität, die weit über die Unterstützung für Menschen mit Behinderung hinausgeht: Wenn Reith beschreibt, was auf der Bühne zu sehen ist, dann ist das auch ein In-Worte-Fassen von etwas, das sich nur schwer fassen lässt. Und das einen ganz unmittelbar berührt.

„Schwanensee“ ist eine Choreografie, die einen anfasst, körperlich, intellektuell, auch politisch

Womit sich dann auch der Kreis zum Walzer-Einstieg schließt. „Swan Fate“ mag strukturell ein Stück sein, das sich im Umfeld eines weit entfernten Klassikers bewegt, aber so, wie Tossi das Publikum auf die Bühne einlädt, so verwandelt sie „Schwanensee“ in eine Choreografie, die einen anfasst, körperlich, intellektuell, auch politisch.

Vielleicht hätte man den Abend an der einen oder anderen Stelle straffen können, vielleicht sind all die postkolonialen, queeren und emotionalen Bezüge zuviel, um sie durchgängig zu entschlüsseln. Und doch: Dass die bislang aufwendigste Arbeit Tossis einen Höhepunkt des Hamburger Theaterjahres darstellt, das kann man jetzt schon sagen.

„Swan Fate“ bis Sonnabend, 17. Dezember, 21 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20, Tickets unter T. 27094949, www.kampnagel.de