Hamburg. Lustvoll, nuanciert, ein bisschen eitel, aber auch ganz schön lustig: Thorsten Lensings Werk zeigt Schauspielkulinarik vom Feinsten.

„Man muss auch mal auf ein Opfer verzichten können.“ Super-Satz! Und nicht der einzige, den man direkt zur späteren Wiederverwendung notieren möchte, an diesem in mancherlei Hinsicht sehr gründlichen Theaterabend.

Der Regisseur Thorsten Lensing ist ein Solitär in der Szene. Seine Inszenierungen sind rar, nur alle paar Jahre bringt er etwas Neues heraus, da finden sich die Bühnenstars nicht nur in der stets hochkarätigen Besetzung, sondern immer auch im Publikum. Klassentreffen also auch zur Hamburg-Premiere seines neuesten Werks auf Kampnagel, „Verrückt nach Trost“, das ganze sieben Koproduktionstheater aufzulisten weiß. Uraufführung war im Sommer bei den Salzburger Festspielen.

Theater Hamburg: „Nur ich zu sein, das reicht mir nicht“

Es ist, zum ersten Mal, ein eigener Text, den Lensing diesmal auf die Bühne bringt, nachdem er zuletzt David Foster Wallace’ Bombastbuch „Unendlicher Spaß“ und davor Dostojewskijs im Vergleich geradezu schmalen Tausend-Seiten-Koloss „Die Brüder Karamasow“ adaptiert hatte. Die Genauigkeit dürfte dabei branchenweit einmalig sein: Er lese jeden Text bis zu 60 Mal, bevor er ihn inszeniere, heißt es über Lensing, und damit nicht genug: Er schreibe ihn auch vollständig ab. Per Hand.

Wie umfangreich die Stoffsammlung für „Verrückt nach Trost“ gewesen sein muss, kann man höchstens erahnen. Ein Kernsatz für das, was Lensing damit anstellt, könnte sich jedoch in den Dialogen finden, die er sich und seinem vierköpfigen Ensemble nun also selbst erfunden und auf den Leib geschrieben hat: „Nur ich zu sein, das reicht mir nicht“, sagt das von Lensings Lieblingsaktrice Ursina Lardi gespielte Mädchen Charlotte schon in der ersten Szene, „ich wär am liebsten alle Menschen auf der Welt.“

Kampnagel: Scheitern als vollendete Kunstform

Und dass dies vielleicht ein exzentrischer, aber auch ein durchaus erfüllbarer Wunsch ist, auch diesen Beweis tritt „Verrückt nach Trost“ an. In mindestens drei Aggregatzuständen kann man ganz unbedingt „alle Menschen auf der Welt“ sein – und auch das eine oder andere Tier, wenn es sich ergibt: beim Schreiben nämlich, beim Lesen und natürlich beim Spielen.

Sogar der Tod lässt sich auf diese Weise austricksen. Die zehn- und elfjährigen Geschwister Charlotte und Felix (herrlich aufgekratzt: Lardi und Devid Striesow) haben ein gemeinsames Ritual, seit ihre Eltern tot sind: das Mama-Papa-Spiel am Strand, die Erweckung der Familie durch ein Rollenspiel voller Behauptungen, Bedürfnisse und rührend wacher Beobachtungsgabe.

Bis ein Fremder in Gestalt von Sebastian Blomberg buchstäblich auftaucht, aus dem die Worte nur so „herausgeschwitzt“ kommen (Gourmet-Sätze wie „In einer perfekten Welt würden die Fische sich darüber freuen, dass wir sie essen“) und der beim Versuch, sich aus seinem Taucheranzug zu befreien, eine regelrechte Parade-Slapsticknummer hinlegt. Scheitern als vollendete Kunstform.

Auch ein philosophierender Oktopus ist auf der Bühne

Eine quer über die Bühnenbreite liegende, in ihrer Massivität durchaus bedrohliche Stahlröhre teilt den Raum in verschiedene Ebenen und lässt den womöglich unendlichen Kosmos dahinter mitschwingen (Bühne: Gordian Blumenthal und Ramun Capaul). Lensing erzählt keine Handlung im eigentlichen Sinne, er kreiert Momente, Beziehungen, Begegnungen und schenkt seinen Spielern Figurenkonstellationen und Zeit, die diese genüsslich auskosten.

Ein Oktopus, der über die Dummheit der Welt philosophieren darf, ein todessehnsüchtiger Naturfilmer, ein hinreißend menschlicher Pflegeroboter, ein Mann ohne jegliches Körpergefühl, ein anderer, der seiner großen Liebe nur noch akustisch verbunden ist. Alles unendlich traurig und rasend komisch zu selben Zeit. Pathetisch, albern, empfindsam, sprachspielerisch – und bewundernswert nuanciert und genau.

Theater Hamburg: "Richtige Wundertüte" auf Kampnagel

Schauspielkulinarik vom Feinsten ist es, was Lardi, Striesow, Blomberg und André Jung da zelebrieren, begnadete Rampensäue allesamt, wobei diese Vokabel natürlich viel zu grobschlächtig ist für das miteinander harmonierende, voneinander profitierende, einander zärtlich zugewandte Quartett. Man spürt sowohl die Lust an diesem Abend als auch das Vertrauen untereinander. Eine Spur Eitelkeit schimmert hin und wieder durch die Episoden, wenn sie allzu zu sketchhaft werden.

„Verrückt nach Trost“ ist eine Art Langzeitbeobachtung, sowohl der Figuren Charlotte und Felix, die hier durch ein ganzes Leben begleitet werden, als auch des Ensembles und dessen tiefenentspannter Dreieinhalb-Stunden-Darstellung von Mensch (Devid Striesow kann auch Säugling!) und Tier (André Jung kann auch Affe, Sebastian Blomberg kann auch Schildkröte!).

„Bist ja ‘ne richtige Wundertüte“, staunt Jung den Kollegen Striesow einmal an, und das ist eigentlich eine recht stimmige Zusammenfassung.

„Verrückt nach Trost“, läuft noch an diesem Wochenende (19. und 20. November, jew. 18 Uhr) auf Kampnagel (k2), Tickets unter www.kampnagel.de