Hamburg. „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ erzählt von der spektakulären Entführung – aus Perspektive der Familie. Kinostart in Hamburg.

„Johann, wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen.“ Dieser Satz der Mutter verändert jäh das Leben ihres 13-jährigen Sohnes. Bis dahin hatte man zehn Filmminuten lang das Gefühl, einem ganz normalen Familiendrama zuzuschauen. Nun gut, nicht jede Familie hat gleich zwei Häuser. Und dass der Vater einen anderen Nachnamen trägt als Mutter und Sohn, sagt auch schon was. Aber die Probleme sind dieselben wie anderswo, vielleicht nur mit umgekehrtem Rollenmodell. Die Mutter arbeitet zu viel und hat keine Zeit für den Sohn, der Vater lebt in seiner eigenen Geisteswelt und sucht den Pubertierenden ernsthaft für Vergil zu interessieren.

Aber dann ist der Vater weg. Entführt. Dafür drängen nun Fremde ins Haus und nisten sich dort ein. Polizisten, die ihnen vorschreiben, wie sie reagieren sollen. Der Anwalt des Vaters. Und ein Freund der Familie, der, das spürt man gleich, mehr auf den Jungen einzugehen weiß, als es dem Vater je gelungen ist.

Reemtsma-Entführung: Sohn erzählt seine Geschichte

Schnell wird klar, um welchen Fall es sich handelt: die Entführung des Publizisten und Milliardärs Jan Philipp Reemtsma 1996. Es war einer der spektakulärsten Kriminalfälle der deutschen Nachkriegsgeschichte. Reemtsma wurde 33 Tage lang gefangen gehalten und erst gegen eine Zahlung von 30 Millionen D-Mark Lösegeld freigelassen. Er hat diesen Horror nur wenige Monate später in seinem Buch „Im Keller“ verarbeitet.

22 Jahre später hat Reemtsmas Sohn Johann Scheerer seine Geschichte und sein eigenes Trauma erzählt. 2018 im Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“. Ein Titel, der sich auf die polizeilichen Einsatzkräfte bezieht, die sich als „Angehörigenbetreuer“ vorstellen.

Hans-Christian Schmid verfilmte das Buch

Verfilmt hat es nun Hans-Christian Schmid, bekannt für seine Dramen über Risse und Dynamiken in Familiengefügen. In seinen früheren Werken erzählte Schmid von Jugendlichen in Ausnahmesituationen, in späteren vom Verschwinden von Menschen und was das für die Angehörigen bedeutet. Scheerers Geschichte wirkt wie die Schnittmenge all dieser Topoi. Es scheint nur folgerichtig, dass Schmid sie aufgriff, ja aufgreifen musste.

Der Film, der Ende September bereits das Filmfest Hamburg eröffnete, nimmt den Schluss vorweg. Denn man weiß ja, wie die Entführung endete. Aber schon hier wird ganz die Sicht des jungen Johann (Claude Heinrich) eingenommen, der verstört durch all das Blau- und Blitzlichtgewitter stolpert. Aus dieser ungewohnten Perspektive wird dann auch das ganze Drama im Haus der Scheerers gezeigt. Es geht also nicht um einen Krimi, nicht um die Täter und auch nicht um den Entführten. Sondern um den Sohn, der mit der Situation irgendwie umgehen muss und anfangs aus dem Off sagt: „Ich habe vorher nicht gewusst, was Angst ist. Und was sie mit einem macht.“

Zwischen Angehörigen und Polizei gibt es einen Interessenkonflikt

Wiewohl meist passiv, bekommt Johann doch ganz genau den dauernden Interessenkonflikt mit: zwischen Mutter Ann Kathrin (Adina Vetter), die nur ihren Mann zurückhaben will, den Polizisten, die die Entführer stellen wollen, und dem Anwalt der Familie (Justus von Dohnányi), der sich über die vermeintlichen Pannen der Polizei erregt, beim Telefonat mit den Entführern und später bei einer ersten Geldübergabe aber selbst versagt. Die Ohnmacht der anderen verunsichert auch den Jungen immer mehr.

Und zunehmend fühlt er sich selbst gefangen und weggesperrt. Weil er nicht aus dem Haus darf. Und niemandem etwas erzählen soll. Schmid inszeniert das alles unaufgeregt, mit dem fast sezierenden Blick eines Analytikers. Ein Drama, das größtenteils an einem einzigen Ort spielt und doch trotz allen Wissens um den Ausgang eine kaum zu ertragende Anspannung schafft.

Versuche der Geldübergabe werden gezeigt

Dabei spielt der junge Claude Heinrich mit tiefen Blicken und einer Expressivität, die einen umhaut. Eine Transparenz, die auch der feinfühligste Regisseur mit noch so guten Anweisungen nicht erreichen könnte, die einfach da sein muss. Ein Glücksfall für den Film.

Ein paarmal bricht Schmid seine Per­spektive dann doch auf. Denn er will sie ja auch zeigen, die Versuche der Geldübergabe und die wenigen Momente „draußen“. Zwischendurch rückt da die Mutter in den Fokus. Aber schnell kehrt der Film wieder zu seiner Hauptfigur zurück, wenn etwa eine Szene draußen angespielt, das Ende aber dem Jungen erzählt wird. Irgendwann wird die Mutter, die anfangs so stark und gefasst schien, apathisch und depressiv. Und auch das muss der Junge aushalten.

Reemtsma-Entführung: Ein richtiges Happy End gibt es nicht

Am Ende gibt es einen einzigen, kurzen Moment von Zuneigung und Innigkeit. Wenn die Familie wiedervereint ist und zu dritt in einem Bett schläft. Doch ein Happy End ist das nicht. Denn die Eltern schlafen, der Junge in ihren Armen aber ist hellwach. Ein Blick, der alles sagt. Auch wenn der Vater zurück ist, wird es nie wieder so sein, wie es war.

„Wir sind dann wohl die Angehörigen“ 118 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im Abaton, Blankeneser, Koralle, Zeise