Hamburg. Glamour auf dem roten Teppich, ernste Töne im Cinemaxx von Festival-Direktor Albert Wiederspiel und Bürgermeister – so lief der Start.

Freiheit ist ein Verb. In der Grundschul-Übersetzung: ein Tu-Wort. „Freedom is a verb/It’s something you must make/It’s something you must take“, so heißt es in einem Song des in Hamburg lebenden US-Musikers Daniel Kahn. Ihn hat Filmfest-Direktor Albert Wiederspiel in diesem Jahr für das musikalische Beiprogramm der Eröffnungsfeier geladen, aber Kahns Songtext ist mehr als Dekoration. „Nichts passt besser zu unserer Zeit“, betont Wiederspiel in seiner Begrüßungsrede im großen Cinemaxx-Saal.

Denn schon immer begriff sich das Hamburger Filmfest als ein politisches Kino-Festival, bewies Haltung und erinnerte offensiv an Künstler und Künstlerinnen, die nicht teilnehmen können, weil sie in ihren Heimatländern unter Hausarrest stehen oder inhaftiert sind, wie die iranischen Regisseure Mohamad Rasoulof und Jafar Panahi. „Die türkische Produzentin Çiğdem Mater wurde zu 18 Jahren Haft verurteilt, für einen Film, den sie nie gemacht hat“, sagt Wiederspiel. „18 Jahre!!!!! So viele Ausrufezeichen kann ich nicht tippen, so laut kann ich nicht schreien…“

Filmfest Hamburg: Bürgermeister Tschentscher gratuliert

Freiheit ist ein Verb – das bedeutet auch, dass Empathie aktiv gelebt und nicht nur beteuert werden muss. Und so ist in diesem Jahr das Molodist Kyiv International Film Festival zu Gast in Hamburg und mit seinem Programm im hiesigen Spielplan vertreten. Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD), der dem Filmfest in seinem Grußwort zum 30. Geburtstag gratuliert, sieht in dieser Einladung „ein starkes Zeichen für die Freiheit der Kunst und den kulturellen Austausch in Europa“. Zu Recht.

Die Angehörigen in der Verfilmung von Johann Scheerers Buch sind der damals 13-Jährige (Claude Heinrich) und seine Mutter Ann Kathrin Scheerer  (Adina Vetter).
Die Angehörigen in der Verfilmung von Johann Scheerers Buch sind der damals 13-Jährige (Claude Heinrich) und seine Mutter Ann Kathrin Scheerer (Adina Vetter). © @Pandora Film, 23/5

Aber: „So sehr, wie ich mich über den ukrainischen Besuch freue, so traurig macht er mich“, erklärt Wiederspiel, der mit den Kollegen aus Kiew auch die ukrainische Botschafterin Irina Tybinka im Cinemaxx begrüßt. „In welchen Zeiten leben wir denn, dass ein Filmfestival quasi auf der Flucht sein muss?! Dass wir knapp 80 Jahre nach der größten Katastrophe mitten in Europa erneut einen Krieg haben?“

"Und ich weine um die Ukraine"

Albert Wiederspiel, in Polen geboren und nach der Flucht in Dänemark aufgewachsen, erinnert an seine ganz persön­lichen Bindungen zur Ukraine: „Dieses sagenumwobene Galizien, wo ich herstamme, ist heute zum großen Teil in der Ukraine. Mein Vater war aus Lemberg, heute Lwiw, und hatte sein Leben lang Sehnsucht nach dieser Stadt. Mein in Bolechow, heute Bolechiw, geborener Onkel Adam, sagte ganz kurz bevor er weit weg von Galizien verstarb: Ich vermisse die Ukraine. (...) Und ich weine um die Ukraine. Um dieses Land, so reich an Geschichte und an Kultur, meiner Geschichte und meiner Kultur, das heute mit Stiefeln brutal niedergetrampelt wird.“

Er weine auch um die russischen Männer, ergänzt Wiederspiel nachdrücklich. Jene, die „als Kanonenfutter in einen sinnlosen Krieg gezogen werden sollen. Und um die Russen, die auf die Straße gehen, um gegen diesen Krieg zu protestieren.“ Wer sich weigere Täter zu sein, verdiene Unterstützung.

Film über die Entführung von Jan Philipp Reemtsma

Auch in der Eröffnungsproduktion dieses Filmfest-Jahrgangs geht es, wenn auch in einem gänzlich anderen Zusammenhang und ohne Bezug zum aktuellen Weltgeschehen, um die Freiheit. Der Drehbuchautor und Regisseur Hans-Christian Schmid hat den autobiografischen Roman von Johann Scheerer über die Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma verfilmt, „Wir sind dann wohl die Angehörigen“. Es ist ein stiller, zurückhaltender, psychologisch feiner Film geworden, ein Kammerspiel fast, im Übrigen ein ausgesprochener Hamburg-Film.

Schicksalsgemeinschaft: die beiden Angehörigen-Betreuer (Yorck Dippe, Enno Trebs, links), ein Freund der Familie (Hans Löw, hinten) und Mutter und Sohn (Claude Heinrich, Adina Vetter).
Schicksalsgemeinschaft: die beiden Angehörigen-Betreuer (Yorck Dippe, Enno Trebs, links), ein Freund der Familie (Hans Löw, hinten) und Mutter und Sohn (Claude Heinrich, Adina Vetter). © @Pandora Film, 23/5

Die Handlung ist Teil der Kriminalgeschichte dieser Stadt – und beleuchtet dennoch die der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Geschehnisse im Hause Reemtsma. Gedreht in einer Villa in Nienstedten erzählt „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ von jenen, die sich im Frühjahr 1996 um die Freilassung des Vaters, Ehemanns, Freundes bemühen. Die warten. 33 Tage lang.

Filmfest Hamburg: Prominenz auf dem roten Teppich

Mit dem feinfühligen Claude Heinrich (der schon den jungen Udo in „Lindenberg!“ spielte) als 13-jähriger Reemtsma-Sohn und Adina Vetter als Mutter Ann Kathrin Scheerer hat Schmid die Hauptrollen fantastisch besetzt. Mit Yorck Dippe, der am Schauspielhaus engagiert ist und hier einen Betreuer der Polizei spielt, und Thalia-Ensemblemitglied Hans Löw als befreundeter Therapeut haben zwei Hamburger Bühnendarsteller entscheidende Parts.

Auf dem roten Teppich ging es zuvor ohnehin prominent zu: Die Schauspielerinnen Barbara Auer, Hannelore Hoger und Pheline Roggan waren ebenso da wie ihre Kollegen Justus von Dohnányi (der im Eröffnungsfilm den Anwalt Johann Schwenn spielt), Gustav Peter Wöhler und der Regisseur Hans-Christian Schmid.