Hamburg. „Schaut, wie wir tanzen“ von Leïla Slimani erzählt Geschichten aus einem Marokko des gesellschaftlichen Umbruchs.
Beim Tanzen gibt es diejenigen, die sich inmitten der Tanzfläche wiegen, unter den Blicken der Anderen. Und es gibt diejenigen, die an der Seite stehen und Zuschauer bleiben. An den Küsten Marokkos durchtanzen die jungen Menschen ausgelassen die Nächte und begrüßen eine neue Zeit, während die Landbevölkerung an der alten Ordnung festhält.
Schon der Titel „Schaut, wie wir tanzen“ von Leïla Slimanis neuem Roman eröffnet die Antagonismen, zwischen denen sich die Figuren im Marokko der späten 60er und frühen 70er bewegen. Es ist der zweite Band einer dreiteiligen Familiensaga und führt den Bestseller „Das Land der Anderen“ fort, der die Geschichte von Mathilde – einer gebürtigen Elsässerin, die dem Marokkaner Amine in seine Heimat folgt und dort doch eine Fremde bleibt – erzählt.
"Schaut, wie wir tanzen": Ein Swimminpool als Zeichen für den Aufstieg
April 1968: Ein Pool wird im Garten gebaut. Mathilde konnte sich bei ihrem Mann durchsetzen. Der Swimmingpool ist, wie vieles in dem Buch, Zeichen für Aufstieg und Wohlstand. Amine hat nach Jahren harter Arbeit aus einem kargen Landgut bei Meknès, im nördlichen Marokko, ein blühendes Unternehmen geschaffen. Sein großer Stolz aber ist Tochter Aïcha.
Sie ist ihren Verhältnissen durch Bildung entkommen und kehrt im Sommer 1968 nach dem Medizinstudium in Straßburg nach Marokko zurück. Aïcha ist die eigentliche Protagonistin des zweiten Teils, die den Wind der Veränderung um sich wehen spürt. Auf einer Autofahrt lernt sie den jungen, idealistischen Wirtschaftsstudenten Mehdi kennen, der den Namen „Karl Marx“ trägt und zu den Intellektuellen zählt, die das Land erneuern möchten.
Große und kleine Akte der Rebellion
Auch die anderen Figuren stehen für große und kleine Akte der Rebellion: Aïchas Bruder Selim verschwindet in der Hippie-Enklave Essaouira und verliert sich in Drogenexzessen, seine Tante Selma prostituiert sich. Genau wie sie ist Mutter Mathilde in einem unglücklichen Zustand gefangen. Sie alle verkörpern auf ihre eigene Weise das Freiheitsstreben und die Widersprüche, die das Land bewegen. In Slimanis Roman gelingt ein geschicktes Gleichgewicht zwischen der Familiengeschichte und den Ereignissen von 1968 bis 1972: Die persönlichen Lebenswege sind mit dem Zeitgeschehen verwoben.
Wie das Land sind auch die Einzelnen auf der Suche nach einer Zukunft. Anhand der fein konstruierten individuellen Schicksale entsteht das Bild eines zerrissenen Marokkos, das ständig zwischen den Extremen schwankt: Erfolg, aufstrebende Städter und ein neues Bürgertum auf der einen, ländliche Armut, fehlende Bildung und Stillstand auf der anderen Seite. Marokko steht nicht mehr unter französischem Protektorat, Unabhängigkeit und Emanzipation liegen in der Luft, doch König Hassan II. geht mit brutaler Repression gegen die politische Opposition vor. Versprechungen der Moderne werden durch archaische Traditionen gelähmt: Die „bleiernen Jahre“ des Landes stehen bevor.
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Leïla Slimani beweist ihr Talent als Porträtistin
Die 1981 in Rabat geborene franko-marokkanische Autorin Slimani beweist ihr Talent als außergewöhnliche Porträtistin. Sie zeichnet einfühlsam und mit feinem Strich nuancierte Charaktere mitsamt ihren Lebenswelten, die die Handlung tragen. Ihre Figuren lässt sie nicht untergehen in einer historischen Erzählung, sondern sie bahnen sich souverän ihren Weg durch das Geschehen und werfen je einen anderen Blick auf die Welt.
Die Erzählstimme nimmt sich zurück und lässt ihnen Raum; sie bewertet nicht. Leïla Slimani zeigt ihre literarischen Gestalten in ihrer Einzigartigkeit und vor allem in ihren Widersprüchen – dabei weiß sie die Kontraste so zu setzen, dass ein vielstimmiges Bild entsteht. Immer bleibt die Geschichte in Bewegung, ist mit viel Rhythmus erzählt. Und über allem schwebt die Frage: Wer tanzt in die Freiheit und wer schaut zu?