Hamburg. Bestseller, Biografien, Krimis: Zehn Neuerscheinungen für Literaturfreunde, Sachbuchenthusiasten und Spannungsgeladene.

Ist es ein gutes Jahr der Bücher? Es ist jedenfalls kein schlechtes. Es gibt zum Beispiel zwei norddeutsche Hits, Dörte Hansens Insel-Hommage „Zur See“ und Heinz Strunks Ostseebad-Hommage „Ein Sommer in Niendorf“. Wobei die Huldigungen in jedem Satz literarisch ausgearbeitet sind, mit Wörtern, die Distanz und Nähe suchen, also keineswegs ungebrochene Liebeserklärungen.

Beim Meister aller Klassen Strunk – man denke nur an seinen musikalischen Ballermann „Breit in 100 Sekunden“ – verhält es sich sogar so, dass ihm in der Lübecker Bucht manche am liebsten Strandverbot erteilt hätten. Das ist die Power von Literatur: Sie kann Leute mächtig verärgern.

Buchtipps: Buchmesse bietet Ukraine eine Bühne

Aber Kriege beenden und Tyrannen stoppen kann sie bedauerlicherweise nicht. Ohne Bezug zum Ukraine-Krieg kann die Frankfurter Buchmesse (19.-23. Oktober) dennoch nicht auskommen. Ein 100-Quadratmeter-Stand zur Ukraine ist annonciert. Und der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan („Depeche Mode“, „Himmel über Charkiw.

Nachrichten vom Überleben im Krieg“) nimmt am Sonntag zum Abschluss der Messe den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegen. Preiskür und Verleihungszeremonie sind immer symbolische Akte. Der Westen weiß, was er dem Osten schuldet; an Solidarität der Ukraine gegenüber und an ideeller Mobilmachung gegenüber Moskau.

Buchmesse: Gastland ist die Literaturnation Spanien

Gastland der diesjährigen Buchmesse ist die stolze Literaturnation Spanien, weshalb in dieser Buchsaison insbesondere viele spanische Übersetzungen erscheinen. Unter anderem ein neuer und letzter Roman von Javier Marías (1951-2022), den wir auf dieser Seite vorstellen.

Es ist viel aufgelaufen mit der aktuellen Buchwelle, Bestseller, Sachbücher und Krimis. Einige der lesenswertesten sind hier zu finden. Regelmäßige Lektüretipps gibt es auch im Podcast Next Book Please unter www.abendblatt.de/podcast.

In Hollywood der Meistgetötete

Die Ausschläge, die nach oben und die nach unten, sind entscheidend. In unseren halbwegs ausbalancierten Normalleben gibt das ja nicht: den großen Absturz, dann den kometenhaften Aufstieg. Oder umgekehrt. Welche Richtung in erzählerischer Hinsicht besser ist? Darüber kann man streiten. Bei Schauspieler Danny Trejo, dem angeblich meistgetöteten Mann in Hollywood, funktioniert die Erzählung des geläuterten Drogensüchtigen und Gefängnisinsassen ziemlich gut.

Mit zwölf Jahren das erste Mal Heroin, kriminelle Geldbeschaffungsunternehmungen, jahrelang Knast – und schließlich Star: Das ist schon gut, da kann man eine Autobiografie schreiben. Titel: „Mein Leben. Verbrechen, Erlösung und Hollywood“ (Heyne, 25 Euro). Wem der Name Trejo nichts sagt, dem erzählt sein Gesicht, wer dieser Mann ist, der in „Heat“ und „Breaking Bad“ zu sehen war: der perfekte Bösewicht. Perfekt auch deswegen, weil er am Ende immer tot ist.

Trejos Gossenerfahrungen haben sich in sein Gesicht gekerbt, die Haut als Schraffur jedes einzelnen seiner Gefängnistage und Suchterlebnisse. Trejo ist Vater dreier Kinder, beliebt bei seinen Kollegen; ein Mann, der seit langem als Drogenberater arbeitet und längst ein „nice guy“ ist. Wie er es schaffte, ganz zufällig Schauspieler zu werden und den ihm vorbestimmten Weg des Verderbens zu verlassen, steht hier eindrucksvoll geschrieben

Ein Krimi auch für Nicht-Krimi-Fans

Wenn man ein Herz für München hat und Kriminalfälle mag, muss man Friedrich Ani lesen. Wenn man Friedrich Ani liest und seine in bayerischen Metropole angesiedelten Plots, bekommt man dann automatisch Lust auf ein Helles. Ist wirklich so. Weißwurst muss aber nicht immer sein.

In Anis neuem Buch „Bullauge“ (Suhrkamp, 23 Euro) sucht der angeschlagene Held, der Polizist Kay Oleander, vor allem im Alkohol Trost. Er wurde bei einem Einsatz auf einer Demo von einer Bierflasche getroffen. Während die Menschen sich in ihren Bürgerrechten beschnitten fühlen, während sie das „Geschrei nach Freiheit“ meinen anstimmen zu müssen, greifen manche zu rabiateren Mitteln. Kay Oleander sieht deswegen nur noch mit einem Auge, er ist krankgeschrieben und ein Schatten seiner selbst. Die 61-jährige Silvia Glaser, auch sie körperlich versehrt, gerät in Tatverdacht. Sie ist den militanten Rechtspopulisten ins Netz gegangen und will den Sumpf verlassen. Dafür braucht sie Oleander. Beide zusammen wollen ein Attentat verhindern.

„Bullauge“ ist ein typischer Ani, ein Krimi auch für Nicht-Krimi-Fans. Das allgemeine Menschliche in Polizeikreisen zeigt sich in linkischen Krankenbesuchen. „Ich hielt es für nicht ausgeschlossen, dass er darüber nachdachte, worüber er auf die Schnelle nachdenken konnte“, denkt Oleander über die Unbeholfenheit seines Kollegen. Wunderbar.

Die Ex-Nazis nach dem Krieg

Die Lebensgeschichte des 1906 in Hamburg in eine angesehene jüdische Kaufmannsfamilie hineingeborenen Philipp Auerbach musste ausführlich erzählt werden. Als späte und postume Würdigung seines Lebens. Und als Zeugnis eines entsetzlichen Deutschlands, das auch nach 1945 noch durchdrungen war vom Gift der Weltanschauung. Der ehemalige „Stern“-Journalist Hans-Hermann Klare erzählt in „Auerbach.

Eine jüdisch-deutsche Tragödie oder wie der Antisemitismus den Krieg überlebte“ (Aufbau, 28 Euro) von Auerbachs Auschwitz-Überleben und seinem Neustart im Nachkriegsdeutschland. Er wurde zur prominentesten Figur des dezimierten jüdischen Lebens in Deutschland, der als Staatssekretär für rassisch, politisch und religiös Verfolgte die Wiedergutmachungsinteressen von Displaced Persons vertrat.

Dabei machte er sich geringfügiger Vergehen schuldig, über die anschließend eine in die NS-Zeit verstrickte Justiz urteilte. Ihn im Jahr 1952 verurteilte, als wäre er ein Gewohnheitskrimineller und nicht ein Mann mit großem Auftrag, der nach einer Art von Versöhnung suchte, die eigentlich unvorstellbar war. Nach dem Urteil beging Auerbach Selbstmord, die Nazis erwischten ihn also doch noch. Auf überzeugende Weise betrachtet Klare das Panoramabild einer Zeit, auf der die dunklen Schatten der Diktatur tiefer lagen, als man sich das gewünscht hätte.

Reif für die Insel: ohne Romantik

Wärmen wird dieses Buch jeden Besuchsinsulaner, der demnächst auch in den Nicht-Sommer-Monaten das Festland verlässt, um auszuspannen und dabei den rauen Wind von vorne ins Gesicht zu bekommen. Obwohl Dörte Hansen die unstillbare Inselromantik in ihrem Nummer-eins-Bestseller „Zur See“ (Penguin, 24 Euro) ja eigentlich mit Hingabe dekon­struiert! Und gleichzeitig auch nicht. Mit ihren Figuren, vor allem denen aus der Familie Sander, facht Dörte Hansen die Leidenschaft fürs nordisch Krabbenpulige, Wasserkabbelige, Maulfaule durchaus aufs Neue an.

Dieser nächste viel gelesene Roman aus der Feder einer Schriftstellerin, die sich auf Melancholie so gut versteht wie auf den trockenen Witz, ist so gut, weil er nah bei den Menschen ist. In diesem Fall den Inselbewohnern, die sich zeit ihres Lebens die Frage stellen müssen, ob sie bleiben oder gehen wollen. Ihre Ängste und Nöte offenbaren sich, wenn sie allein mit sich und der Insel sind. Es gibt einen Pfarrer, dessen Frau unter der Woche lieber auf dem Festland leben will. Eine Altenpflegerin, die nicht anders kann, als weiter auf der Insel zu leben, obwohl eine Liebe anderswo auf sie wartet.

Und einen Wal, der auf der Insel strandet und nicht mehr wegkann. Die Insulaner zerlegen ihn, und eine von ihnen will ihn ausstellen. Was für eine schöne Symbolik.

Spaniens großer Meister

Man kann „Tomás Nevinson“ (S. Fischer, 32 Euro) lesen, ohne „Berta Isla“ zu kennen. Es steigert aber das Lektüreerlebnis, wenn man den Vorgängerroman kennt. Javier Marías erzählt dort die Geschichte, wie Tomás ungewollt zum englischen Agenten wird und was das daraus folgende Doppelleben für die Liebe zu seiner Frau Berta Isla bedeutet. Im neuen Roman, der auf Deutsch nur ein paar Wochen nach Marías’ überraschendem Tod durch die Folgen einer Corona-Infektion erscheint, ist Nevinson zunächst nach Spanien zurückgekehrt, das Land seiner Familie, das und die er seit Jahren nicht gesehen hatte.

Aber raus aus der geheimdienstlichen Bredouille ist er damit mitnichten. Ein neuer Auftrag ereilt ihn; er hat mit ETA-Anschlägen zu tun; eine Terroristin soll ausgeschaltet werden. Javier Marías hat es also ein weiteres Mal getan. Und einen Spionageroman geschrieben, der gleichzeitig ein Eheroman ist. Marías, der lebenslange Anhänger Real Madrids und geniale Fußballautor, war der größte spanische Schriftsteller der Gegenwart.

In „Tomás Nevinson“ offenbart sich bedauerlicherweise ein letztes Mal seine Meisterschaft der langen Sätze und noch längeren Abschweifungen. Wie W. G. Sebald (1944–2001), der auch viel zu früh starb, war er ein heißer Kandidat auf den Literaturnobelpreis. Den neuen Roman wollen wir andächtig und genießerisch lesen.

Essays einer Unbequemen

Monika Maron ist der personifizierte Stresstest für liberale und nach links tendierende Leserinnen und Leser. Für konservative ist sie eine Rettung. Die einst mit ihrem Roman „Flugasche“ bekannt gewordene DDR-Schriftstellerin, die 1988 ihr Land verließ und bis 1992 in Hamburg lebte, gilt also als umstritten. In Hamburg veröffentlicht sie neuerdings ihre Bücher, bei Hoffmann und Campe, seit sie aufgrund ihrer manch einem weltanschaulich verdächtigen Texte in Verruf geraten ist und den Fischer-Verlag verließ.

Diese Texte, abzüglich der Romane, tauchen nun in dem Band „Essays und Briefe“ (34 Euro) auf. Wer sich durch Marons immer vorzüglich geschriebene, oft provozierende Stellungnahmen liest, durchreist mit einer scharf urteilenden Beobachterin mehrere Jahrzehnte deutscher Geschichte. Marons Einwürfe haben auch Jahrzehnte nach ihrer Publikation wenig an Relevanz verloren.

Wer sich als Westdeutscher heute über Sachsen, Pegida und die AfD ärgert, dem könnte die erklärte Kritikerin von Islam und Zuwanderung Monika Maron verklickern, warum wir es uns bisweilen vielleicht zu einfach machen im Hinblick auf ostdeutsche Frustventile. Dass sie nicht zum linken Mainstream gehören kann und will, ist in „Links bin ich schon lange nicht mehr“ dargelegt. Folgen in ihre Multikulti-Opposition wollen wir ihr nicht; man nimmt eher ihre Haltung und versucht, seine eigene an Maron zu schärfen.

Sex bis zum Anschlag

Thomas Melles 2016 erschienener Roman über sein Leben mit der bipolaren Störung, der manischen Depression, „Die Welt im Rücken“, war ein fesselndes, bestürzendes, furioses Seelen-Zeugnis. Reichlich sechs Jahre später erscheint nun der Nachfolger „Das leichte Leben“ (Kiwi, 24 Euro). Er ist Melles beschleunigter, überpointierter, stilisierter Kommentar zur Übersexualisierung der Gegenwart mit ihrer allgegenwärtigen Pornografie. Ein Plot, der reinknallt, auf die Melle-typische, explizite Weise erzählt. Ohne doppelten Boden, ohne falsche Poesie.

Im Zentrum des Geschehens stehen der Boulevardfernsehenmann Jan und seine Frau Kathrin, die Ex-Autorinnenhoffnung und jetzige Lehrerin in einer inklusiven Schule. In der Ehe ist der Leidenschaftsofen aus, Kathrin geht zum Rudelvögeln auf eine private Sexparty. Ihre Freundin schenkt ihr, sicher ist sicher, aber auch noch ein Sextoy, den „Satisfyer“.

Jan wird mit anzüglichen Fotos aus seiner Jugend erpresst und muss bald gewahren, dass mit dem schönen Keanu ein Nebenbuhler in sein Heim eingezogen ist, der weitaus mehr ist als der Schulkamerad seiner Kinder. In „Das leichte Leben“ sind die allermeisten Figuren ganz schön kaputt, und Thomas Melle schickt sie in ein loderndes Fegefeuer. Oder gleich in die Hölle. ­Tougher Text.

Trump bleibt eine Heimsuchung

Pulitzer-Preisträgerin Maggie Haberman gilt als größte aller Expertinnen für diesen hoffnungslosen Fall. Donald Trump bleibt die Heimsuchung Amerikas; wer die Einschätzung für überholt hält angesichts der derzeitigen Mehrheitsverhältnisse und der Biden-Präsidentschaft, der sei eindringlich vor dem US-Wahljahr 2024 gewarnt. Haberman ist wie Trump New Yorkerin. Sie begleitete den politischen Quereinsteiger seit dem vorletzten Wahlkampf, sie weiß so viel von ihm und seinem Prä-Präsidentschaftsleben, wie man überhaupt wissen kann.

Nun erscheint ihr 700 Seiten dickes, reiches, smart geschriebenes Epochen-Por­trät „Täuschung. Der Aufstieg Donald Trumps und der Untergang Amerikas“ (Siedler, 36 Euro), das im Original „Confidence Man“ heißt. Es gab beim gleichzeitigen Erscheinen in Amerika ein paar enttäuschte Stimmen – man erfahre nichts Neues. Selbst wenn es stimmt: So konzis und bestechend wurde das Phänomen des Lautsprechers Trump und seiner unlauteren, das Politspiel verändernden Methoden noch nie dargelegt.

Wie in solchen Fällen üblich, sprach Haberman mit Hunderten Quellen über viele bekannte Vorgänge. Menschen, die nah dran waren und dran sind. Dass der innerste Kern von Trumps Charakter vermutlich dennoch versiegelt bleibt, ist kein Schaden.

Russlands Werk, Teufels Beitrag

Tanja Maljartschuks Texte sind sardonisch, wie alle Ukrainerinnen und Ukrainer lässt sie keinen Zweifel an ihrem, vorsichtig ausgedrückt, Unverständnis über russisches Hegemonie-Gebaren. „Russland, du sagst, du willst uns Dummerchen retten, das ist deine Aufgabe. Bitte rette uns nicht! Lass uns untergehen!“, schrieb sie 2014, dem Jahr der russischen Krim-Annexion, im Text „Ein Brief an einen Bruder“. Die Ukrainerin Maljartschuk emigrierte 2011 nach Wien. Sie schreibt auf Deutsch Erzählungen und Romane. 2018 erhielt sie den Bachmann-Preis.

In dem Band „Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur“ (Kiwi, 20 Euro) sind ihre Essays vornehmlich aus den Jahren nach 2014 versammelt, in denen sie anklagt und berichtet, implizit auch mit dem schlechten Gewissen der Exilierten, was der Aggressor Putin ihrer Heimat antut. Wie sollte man dieser Frau, die den Texten die Widmung „Für mein tapferes Land“ voranstellt, nicht die unbedingte Parteinahme zugestehen?

Tanja Maljartschuk hat einen Text „Die Gefangenen Russlands“ betitelt, und da geht es um frühere Dissidenten und spätere, immer um ukrainische Gefangene: Maljar­tschuk begreift die Sowjets und die Russen als Kerkermeister, die stets im Unrecht sind. Man braucht nicht viel Empathie, um das zu verstehen.

Die Liebe des Scheusals

Die Vermutung liegt nahe, dass dieser Roman in Alex Schulmans Heimatland Schweden ein doppelt interessiertes Publikum gefunden hat: In dem brennend interessanten, irre gut komponierten Roman „Verbrenn all meine Briefe“ (dtv, 23 Euro) erzählt er die Geschichte von zwei skandinavischen Geistesgrößen, die einst die gleiche Frau liebten.

Die war Alex Schulmans Großmutter, und sein berühmter Großvater war Sven Stolpe (1905–1996), ein schwedischer Großschriftsteller und Literaturkritiker. Anfang der 1930er-Jahre verliebte sich seine verheiratete Großmutter Karin in den jungen Autor Olof Lagercrantz, worauf sich ein Liebes- und ein Ehedrama entspann. Schulman, Jahrgang 1976, hat bereits realbiografisch inspirierte Romane über seine Eltern verfasst. Genauso intensiv ist nun die Lektüre dieses Buchs, das hauptsächlich in einer Zeit spielt, in der die Liebe noch ein Spiel um alles oder nichts ist.

Schulman setzt den Sommer der Romantik und des dreifachen Außer-sich-Seins mithilfe seiner Imaginationskraft zusammen; ihm dienten Briefe und Tagebücher als Grundlagen. Der Blick auf seinen bigotten, selbstgerechten Großvater ist mitleidlos, der auf sein familiäres Erbe und eventuelle, habituelle Weiterreichungen ohne falsche Rücksichtnahme eingeht – ein spezielles Buch.