Hamburg. Die Romanadaption der friesischen Bestsellerautorin feierte im Ohnsorg-Studio mit nur drei Schauspielerinnen eine berührende Premiere.

Im Herbst, da fahren Landwirte ihre Ernte ein. Dieser Grundsatz gilt auch im Alten Land. Von Anfang September bis Ende Oktober ist im größten zusammenhängenden Obstanbaugebiet Deutschlands Zeit für die Altländer Apfeltage. Bei den Tagen des offenen Hofes laden südlich der Elbe einige Obsthöfe dazu ein, hinter die Kulissen zu schauen.

Am Heidi-Kabel-Platz steht jetzt ebenfalls ein Apfelhof – und das bis Mitte Januar. Katrin Reimers’ stilvolles und -echtes Bühnenbild bildet den Rahmen für ein Schauspiel, das tief blicken lässt in menschliche, insbesondere weibliche Seelen und mehr denn je aktuelle Themen wie Heimat, Flucht, Vertreibung und Abgrenzung.

Dörte Hansens „Altes Land“ – jetzt auf kleiner Ohnsorg-Bühne

Mit der Bühnenfassung von Dörte Hansens Bestsellerroman „Altes Land“ hat sich das Ohnsorg-Studio, die kleine und junge Bühne des Ohnsorg-Theaters, nach einigen Jahren der Vorbereitung und coronabedingter Verschiebungen zu seinem zehnten Jubiläum in diesem Oktober gewissermaßen selbst beschenkt. Die Idee zu „Altes Land“, das 2020 als Zweiteiler im ZDF mit Iris Berben zu sehen war, reifte bis zur Premiere an diesem Wochenende wie ein aromatischer Apfel.

Und dass Studio-Leiterin Cornelia Ehlers mit der ihr seit Langem bestens bekannten friesischen Bestsellerautorin Hansen die plattdeutschen Passagen erstellt hat, gereicht dem Stück gewiss nicht zum Nachteil. Wie in der Vergangenheit die Inszenierungen für Kinder und Jugendliche sowie zuletzt immer mehr für Erwachsene spielt „Altes Land“ sowohl auf Platt- als auch auf Hochdeutsch. Und bis auf den öfter Akkordeon spielenden Musiker Florian Miro ist es komplett ein Stück von und mit Frauen – jedoch nicht nur für Frauen.

Regisseurin Julia Bardisch, die mit Ehlers die Bühnenfassung erstellt hat, hat bei ihrer ersten Inszenierung eines Abendstücks fürs Ohnsorg-Studio gut daran getan, auf Zeitsprünge und Verschachtelungen wie im 288-Seiten-Roman zu verzichten. Der Stoff ist auch in dieser hier chronologischen Erzählweise komplex und dramatisch genug. In der auf zweieinhalb Stunden inklusive Pause und nur drei Schauspielerinnen komprimierten Buchadaption gelingt dennoch ein umfassendes Abbild norddeutscher Befindlichkeiten und Geschichte(n) dreier Generationen.

Dörte Hansens „Altes Land“: Geschichte dreier Generationen

Nachdem Hildegard von Kamcke 1945 mit ihrer Tochter Vera aus Ostpreußen ins Alte Land geflohen ist, muss sich die Fünfjährige von der alteingesessenen Obstbäuerin Ida Eckhoff als „Polackenkind“ beschimpfen lassen. „Sie machen das Haus zu einem Schlachtfeld“, kommentiert die kleine Vera die Kämpfe zwischen Bäuerin Ida und ihrer Mutter Hildegard. Die heiratet erst Idas kriegstraumatisierten Sohn Karl, verlässt dann aber ihren Mann und ihre 14-jährige Tochter, um in Hamburg-Blankenese ein neues Leben zu beginnen.

Die Hauptperson Vera wird sich ein Leben lang in dem großen, kalten Bauernhaus fremd fühlen und kann trotz Zahnmedizin-Studiums in Hamburg und Praxis im Dorf nicht davon lassen. Bis 60 Jahre später plötzlich ihre Nichte Anne, die Tochter ihrer Halbschwester Marlene, vor der Tür des Hofes seht. Anne ist nach der Trennung von ihrem Partner mit ihrem kleinen Sohn regelrecht aus Ottensen geflüchtet,

Dörte Hansens „Altes Land“: Minutenlangen Premierenbeifall

Die drei im Grundton schwarz gekleideten Schauspielerinnen Kerstin Hilbig, Ruth Marie Kröger und Kristina Nadj fungieren in „Altes Land“ zeitweilig jeweils als Erzählerinnen. Nach jedem ihrer vielen schnellen Auf- und Abgänge oder auch mal auf der Bühne wechseln sie ihre Rollen und schlüpfen bis auf die des Kriegsheimkehrers Karl (den gibt Musiker Miro) ebenso in sämtliche Männerrollen.

Insbesondere Kerstin Hilbig, 2014: mit dem Hamburger Rolf-Mares-Preis als herausragende Darstellerin (als Fanny in „Der Hässliche“/Theater Kontraste) ausgezeichnet, verleiht Charakteren wie der Bäuerin Ida oder der alten Vera eine berührende, manchmal beklemmende Verletzlichkeit.. Ruth Marie Kröger spielt mit Hildegard, Vera und Anne gleich drei wichtige Frauenrollen mit Verve, zudem noch Veras Halbschwester Marlene. Und Kristina Nadj, die Jüngste im Dreierbunde, setzt nach der Pause als Anne komische Akzente, die der tiefgründigen Inszenierung gut tun: Als verhinderte Musikerin verdingt sich die spätere Tischlerin wiederholt bei der musikalischen Früherziehung „Musi-Maus“ in Ottensen – derart schön überzeichnet, wie es Autorin Hansen im und mit dem hippen Stadtteil im Roman beschrieben hat.

Auch wenn sie sich Anne und Vera, die junge Frau aus der Stadt und die auf dem Land gealterte Tante, beim Obstbrand-Trinken am Tisch des Bauernhauses zeitweilig näherkommen, bleiben beide einander lange fremd. Zwei Einzelgängerinnen, die überraschend finden, was sie nie gesucht haben: eine Familie. „Was wissen Töchtern schon von ihren Müttern?“, fragt Vera – und gibt die Antwort selbst: „Nichts!“

Nach dem minutenlangen Premierenbeifall und der Würdigung aller Beteiligten inklusive des langjährigen Studio-Förderers Bodo Röhr Stiftung durch Ohnsorg-Intendant Michael Lang gab es für die Gäste dann doch noch etwas Handfestes auf den Weg: außer dem Jubiläumsheft zu zehn Jahren Ohnsorg-Studio jeweils einen Apfel aus dem Alten Land. Es ist Erntezeit.

„Altes Land“ wieder Mi 2.11., bis 18.1. 2023, jew. 19.00, Ohnsorg-Studio (U(S Hbf.), Heidi-Kabel-Platz 1, Karten ab 25,75: T. 35 08 03 21; www.ohnsorg.de