Hamburg. Regisseurin Lucia Bihler hat Gespür für Details, doch wollte sie zu viel? Zum Glück wird Woyzeck von Josef Ostendorf gespielt.

Merkmal der umstrittenen britischen Kleinkind-TV-Serie „Teletubbies“ war, dass die Figuren am Ende der Geschichte „Nochmal, nochmal!“ quengeln. Vielleicht hat Regisseurin Lucia Bihler als Kind viel davon angeschaut. In ihrer Version des „Woyzeck“, für den sie mit Mats Süthoff auch eine Fassung aus dem Text von Georg Büchner entwickelte, hat sie – womöglich unbewusst – ein paar Anleihen übernommen. Vielleicht geht es ihr auch um das Entlarven einer infantilen Gesellschaft.

Ein riesiges von Strahlenkranz umrahmtes Auge blickt auf die Zuschauer im Schauspielhaus. In einer kleinen Guckkastenzelle hinter dem Auge, die von Pia Maria Mackert in brutalem Pastellrosa ausgekleidet wurde, spielt sich das menschliche Drama ab. „S’ist Zeit, Marie“, sagt Josef Ostendorf als Franz Woyzeck. Er sagt es noch mal und noch mal und immer ein bisschen anders. Mal fröstelnd brutal. Bald kaum hörbar, fast winselnd. Bald weinend.

Beim ersten Mal ersticht er die von Bettina Stucky gegebene Marie, beim nächsten Mal metzelt er sie im Gewaltrausch nieder und einmal ersticht er sogar sich selbst. Woyzeck ist viele an diesem Abend.

„Woyzeck“ am Schauspielhaus: durchgestylt und bonbonbunt

Mangelnden Formwillen kann man Lucia Bihler nicht vorhalten. Ihr „Woyzeck“ ist durchgestylt, bonbonbunt, angesiedelt irgendwo zwischen Teletubbie-Land, Geisterbahn und schlechtem psychedelischem Trip.

Der letzte Eindruck überwiegt, wenn Josef Ostendorf irgendwann mit Hilfe der nunmehr rotierende Drehbühne von Raum zu Raum streift und in einer absichtsvoll enervierenden Wiederholung der fragmentarischen Handlung immer wieder aufs Neue seinem Freund Andres (Ute Hannig), dem maliziös züngelnden Doktor (Matti Krause) und dem verführerisch-fiesen Hauptmann (Paul Behren) begegnet.

Warum handelt Woyzeck auf einmal anders?

Allerdings wollte sich Bihler, so stand vorab zu lesen, eigentlich mit Femiziden auseinandersetzen und möglichen Auswegen aus der Gewalt gegen Frauen, die weltweit erschütternd zunimmt. Davon ist wenig zu sehen. Die Figuren sind gefangen im Korsett ihrer Wiederholungsschleifen, die sie, wenn auch mit kleinen Variationen, immer wieder durchleben.

Warum Ostendorfs Woyzeck dann auf einmal anders handelt und Marie, nachdem Bettina Stucky ein melancholisches Lied gesungen hat, mit dem Leben davonkommt, bleibt unerklärt.

Bihler hat Gespür für Details und eine Liebe zu ihren Figuren. Sie schafft eine eigene, beklemmende Welt, in der Attribute wie Hauptmann oder Soldat nur mehr Behauptungen sind. Und ein von Matti Krause ebenfalls gegebener Narr scheinbar die Fäden zieht. Pia Maria Mackert hat die kleine Guckkastenbühne schalldicht wie eine Gummizelle ausgekleidet, als ob sie so den grassierenden Wahnsinn abfedern könnte. Ein Ventilator rotiert. Leuchtröhren verbreiten kaltes Neonlicht. Eine Uhr verkündet die Todesstunde.

Schauspielhaus-Ensemble ist schrill aufgemacht

Das Ensemble ist schrill aufgemacht, fast wie bei Herbert Fritsch. Alle tragen blonde Perücken, bleiche Gesichter, überlange Fingernägel und bewegen sich in von Belle Santos kreierten glänzend-sportiven Kostümen. Dazu tragen sie kleine Teufelshörner, als wollten sie den Büchner-Satz „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“ betonen.

Am Bühnenrand knüppelt Johannes Cotta fast ununterbrochen in einer mäßig originellen Wiederholungsschleife am Schlagzeug und illustriert jede noch so kleine Geste, die hier fast comicartig erzählt wird, mit einem Laut.

Zum Glück wird Woyzeck von Josef Ostendorf gespielt

Lucia Bihler inszeniert erstmals am Schauspielhaus, für das sie sich mit Arbeiten zuletzt als Hausregisseurin an der Volksbühne Berlin empfahl. Nun ist es das Privileg der Jugend, mitunter zu viel auf einmal zu wollen, zu viele Mittel in einen Topf zu rühren – und darüber den Inhalt zu vernachlässigen.

Die Motivation des von Büchner um 1836 als Fragment verfassten Dramas um den Soldaten Woyzeck, der sich von Existenzangst getrieben für medizinische Experimente ausnutzen lässt, von Marie mit dem feschen Tambourmajor betrogen wird, bald vor Eifersucht rast und schließlich zum Mörder wird, bleibt unbefriedigend offen.

Zum Glück aber wird Woyzeck von Josef Ostendorf gespielt, der die Rolle mit eindrucksvoller Präsenz und feinen Zwischentönen ausstattet. Mal ist er unterwürfig, mal demütig, mal tobend, bald verzweifelt. Und Bettina Stucky ist eine grandios sich behauptende Marie, die ihr Kind liebt, aber in prekären Verhältnissen festhängt. Da kann sie der elegant-verführerisch herumstolzierende Tambourmajor, den der stets intensive Paul Behren mit Bock-Hörnern auf der Blondperücke gibt, schon mal aus der Fassung bringen.

„Woyzeck“ ist aktueller Abitur-Stoff in Hamburg

Da wird das Licht rot und die Sehnsucht in Maries Adern steigt. Woyzeck bleibt das nicht verborgen. Und das Unheil nimmt seinen Lauf. Als am Ende die Uhr verschwunden ist, Woyzeck und Marie einander wieder einmal am Tisch gegenübersitzen, ahnt man zumindest, dass dies nun die letzte Wiederholung gewesen sein könnte. „Nochmal?“ fragt Matti Krauses Narr vom Bühnenrand. „Nein!“, schallt es aus dem Saal zurück.

„Woyzeck“ ist aktueller Abitur-Stoff. An Zuschauern dürfte es dieser Inszenierung, die am Premierenabend mit ausdauernd freundlichem Applaus bedacht wurde, also nicht mangeln. Und übrigens gibt es in dieser Spielzeit auch eine sehr kluge, empfehlenswerte Inszenierung am Jungen Schauspielhaus mit dem Titel „Subjekt Woyzeck (into the void)“ von Moritz Franz Beichl.

„Woyzeck“ weitere Vorstellungen 31.10., 19.30 Uhr, 3.11., 19.30 Uhr, 4.11., 11 Uhr, 10.11., 20 Uhr, Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter T. 24 87 13; schauspielhaus.de