Hamburg. Jahrzehntelang unveröffentlicht: „Die Elektrikerin“ erzählt das bewegende Schicksal der tschechischen Jüdin Franci Rabinek Epstein.
„Es war ein heißer Tag im September 1942, der Prager Industriepalast wimmelte vor Menschen. Die meisten hockten auf losem Stroh am Boden; andere wanderten benommen umher. Verschwunden war die glitzernde Pracht tschechoslowakischer Industrieprodukte, die dem Ort die Aura eines fröhlichen Jahrmarkts verliehen hatte.
Als Kind hatte ich die Ausstellungshalle oft besucht, weil die Elektrotechnikfirma meines Vaters, Korálek & Rabinek, hier einen Stand hatte. Das war jedes Mal ein Riesenvergnügen. Ich kam nach Hause mit Gratisproben, Ballons und stapelweise Hochglanzkatalogen. Dieses Mal würde ich nicht wieder zurückkehren, denn der Industriepalast war infolge der ,Nürnberger Gesetze‘ umfunktioniert worden zu einer Sammelstelle für die Deportation Unerwünschter, von Juden."
Lesung in Hamburg: Menschlichkeit bröckelt immer mehr
Die Tragik einer sich ankündigenden Katastrophe liegt schon in den allerersten Sätzen dieses Buches. In „Die Elektrikerin“, gerade im Dölling und Galitz Verlag erschienen, wird die schier unglaubliche Geschichte von Franci Rabinek Epstein (1920–1989) erzählt, es ist ihr „Überlebensweg als tschechische Jüdin 1939 bis 1945“. Ihre Reise in die Hölle begann in Prag, wo sie eine erfolgreiche Modedesignerin war. 1942 wurde sie zusammen mit ihren Eltern ins Getto nach Theresienstadt deportiert; die Eltern und ihr Mann überlebten nicht. In der Folge wurde sie nach Auschwitz, in die Außenlager des KZ Neuengamme – Dessauer Ufer, Neugraben und Tiefstack – und schließlich nach Bergen-Belsen gebracht, wo sie 1945 befreit wurde.
Die Menschlichkeit, die zu Beginn „noch unberührt war“, wie Epstein es beschreibt, sie beginnt mit jeder Station zu bröckeln. Franci und ihre Leidensgenossen gewöhnen sich an den brutalen, harten Lageralltag, an schwere körperliche Arbeit, permanenten Hunger, Schikane, Gewalt und Tod.
Franci gibt sich als Elektrikerin aus
Zur selben Zeit begegnet sie immer wieder vertrauten Menschen und schließt Freundschaften, die ihr Überleben sichern. Und zuletzt ist es eine spontane Notlüge, die sie vor der letzten, todbringenden Deportation rettet: Gegenüber dem Lagerarzt Josef Mengele gibt sie sich als Elektrikerin aus und wird fortan für alle möglichen Hausmeistertätigkeiten eingesetzt.
Man ist gleichermaßen erschrocken über die offenen und drastischen Schilderungen und beeindruckt von der überbordenden Überlebenskraft der selbstbewussten Protagonistin und ihren trotz allem auch immer wieder humorvollen Anekdoten. Die Parallelität dieser Gegensätze ist die große Stärke des Buches, und doch verwirrt sie an so mancher Stelle, man ist während der Lektüre hin- und hergerissen.
Franci kehrt zu ihrem Ich zurück
Der Perspektivwechsel vom erlebenden Ich zur dritten Person, der sich in den Kapiteln über Auschwitz vollzieht, wenn Franci sich mit der ihr auf den Arm tätowierten Nummer A-4116 bezeichnet, soll verdeutlichen, wie die junge Frau versucht, sich von ihrem Schicksal abzugrenzen.
Nach der Befreiung, mit dem Eintreffen im Auffanglager in Celle, kehrt Franci zu ihrem Ich zurück, ist aber nicht imstande, das Erlebte zu reflektieren: „Das ging so weit, dass ich bei einem Kinobesuch – wir wollten, glaube ich, ,Song of Russia‘ sehen – die im Vorprogramm gezeigte Wochenschau über die Befreiung Bergen-Belsens komplett ungerührt anschaute, ungläubig angesichts dessen, was ich da auf der Leinwand sah. Eine Aufnahme zeigte zwei junge Frauen auf einem ehemaligen Wachturm, wie sie in die Kamera winken. Der Wachturm stand neben einem Berg aus Leichen.“
Franci kann sich schwer an Alltag gewöhnen
Eher widerwillig kehrt sie zurück in ihre Heimat und kann sich dort nur schwer an einen normalen Alltag gewöhnen. Ihren Mitmenschen und Annäherungsversuchen einiger Männer begegnet Franci mit Skepsis.
Vielleicht würde man bei manch anderem Buch das Ende, das die Protagonistin beim Skifahren in den Bergen beschreibt, kitschig finden, doch nicht bei der außergewöhnlichen Geschichte von Franci Rabinek Epstein: „Der Himmel war wolkenlos, die Kiefern waren wie überzuckert mit Neuschnee. Keine Seele war da, um mich in meiner urplötzlichen Verbundenheit mit dem Universum zu stören. Ehrfürchtig betrachtete ich die mich umgebende magische Schönheit, als sei sie eigens geschaffen worden, um mich willkommen zu heißen. Wenn es einen Gott gab, dann fühlte ich seine Gegenwart in diesem Moment, und ich fühlte auch Dankbarkeit, am Leben zu sein.“
Lesung in Hamburg: Text jahrzehntelang unveröffentlicht
Jahrzehntelang blieb der Text unveröffentlicht. Erst vor Kurzem wurde er in den USA und in mehreren europäischen Ländern publiziert, in deutscher Übersetzung ist er nun im Verlag Dölling & Galitz mit einem Nachwort von Francis Tochter Helen Epstein erschienen. Darin schreibt sie: „Ich wuchs auf in Ehrfurcht vor meiner brillanten, offenherzigen, pragmatischen Mutter, voller Respekt vor dem, was sie durchgemacht hatte, und beeindruckt von den Lehren, die sie daraus gezogen hatte.“
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Die US-Bestsellerautorin und Holocaust-Expertin, die sich erst nach vielen Jahren dazu überwinden konnte, sich mit dem Schicksal ihrer Mutter und der Familie auseinanderzusetzen, liest am Mittwoch aus „Die Elektrikerin“ im Altonaer Museum.
„Die Elektrikerin“ Mi 12.10., 18.00, Lesung und Gespräch mit Helen Epstein und Nina Petri, Altonaer Museum (S Altona), Museumstraße 23, Eintritt 10,-/5,- (erm.), www.shmh.de