Hamburg. Die Uraufführung „Alice – Spiel um Dein Leben“ erzählt von der Jüdin Alice Herz-Sommer. Ihre Überlebensstrategie: Talent.
Die Musik kann manchmal dafür sorgen, dass noch Menschlichkeit spürbar ist, selbst in Zusammenhängen, die vollkommen enthumanisiert sind. Mit erstaunlicher Fingerfertigkeit und starkem Ausdruck greift die Schauspielerin Natalie O’Hara in die Tasten. Auch ohne Notenbild beherrscht sie die „Appassionata“-Beethoven-Sonate perfekt.
O’Hara spielt die jüdische Pianistin Alice Herz-Sommer (1903-2014) in der von François Camus eingerichteten Uraufführung „Alice – Spiel um Dein Leben“ an den Hamburger Kammerspielen. Die Inszenierung lebt ganz von ihrem Spiel, das sich mühelos mit nur wenigen Variationen in Stimme und Geste zwischen mehr als 20 Rollen – Mutter, Sohn, Onkel, Aufseherin und zurück – und einem immer wieder eindrucksvoll virtuosen Klavierspiel bewegt.
Wenn das Können zur Überlebensstrategie wird
Der realen Pianistin Alice Herz-Sommer wurde Ihr Können zur Überlebensstrategie. Als die in Prag lebende Jüdin zusammen mit ihrem Mann und dem sechsjährigen Sohn in das KZ Theresienstadt deportiert wird, hat sie das Glück, dass dort ein zu Propagandazwecken geduldetes Kulturleben möglich war. Und als hätte sie es geahnt, hat Herz-Sommer, noch als sich die furchtbare Lage anbahnte, 24 technisch anspruchsvolle Etüden des Komponisten Frédéric Chopin auswendig eingeübt. Im Laufe ihrer Inhaftierung sollte sie über 100 Konzerte spielen.
Die Inszenierung kommt mit einem Minimalismus aus, der dem beklemmenden Thema angemessen ist. O’Hara trägt schlichte graue Hose und weiße Bluse, die Haare streng zurück. Bislang eher wenig auf der Bühne zu Hause, dafür eher in Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen und der „Bergdoktor“-Serie, meistert sie diesen Monolog erstaunlich versiert. Vor allem aber ihre Zwiesprache mit dem Flügel überzeugt. Chopin-Etüden spielt sie genauso wie eine Schubert-Sonate oder „Clair de Lune“ von Claude Debussy.
Ein Stück Erinnerungskultur an den Kammerspielen
Sie hält ihren Sohn bei Laune, trotzt Entbehrung, Leid und Hunger. Sie bleibt stark, als ihr Mann Leopold schließlich gen Osten verlegt wird – in den sicheren Tod. Außer ihrem Spiel und der den Raum füllenden Musik flirren wenige in Schwarz-Weiß gehaltene Videoprojektionen über eine Leinwand, etwa gezeichnete Postkarten von KZ-Insassen.
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Der Abend ist ein wichtiges Stück Erinnerungskultur, wie sie nur die wenigen noch lebenden Zeitzeugen der NS-Schreckensherrschaft vermitteln können. Leider verliert sich der wenig kunstvolle Text von Kim Langner in der Beschreibung äußerer Ereignisse und im Gefühlsausdruck. Hätte Hitlers Hass durch die Magie der Musik abgewendet werde können? Puh, leider wohl eine gewagte These. Man hätte sich etwas mehr Innensicht auf die Gedanken dieser spannenden Figur der Zeitgeschichte gewünscht.
Kurze Filmsequenz zeigt die reale Alice Herz-Sommer
Die jedoch wird am Ende noch nachgeliefert, wenn eine kurze Filmsequenz die reale Alice Herz-Sommer zeigt, die im Alter von 110 Jahren in Jerusalem starb. Dankbar sei sie, so sagt sie, für jeden Sonnenstrahl. Und dann sieht man ihre Hände über die Tasten ihres Klaviers fliegen, so wie an jedem Tag ihres Lebens. Ein eindringlicher Abend über eine beeindruckende Frau, die in die Grausamkeit der Zeitgeschichte geriet und der es gelang, einen Weg für sich aus der Verzweiflung zu finden.
„Alice – Spiel um Dein Leben“ weitere Vorstellungen bis 6.6., Hamburger Kammerspiele, Hartungstraße 9-11, Karten unter T. 413 34 40; www.hamburger-kammerspiele.de