Hamburg. Ian Kershaw zeigt in seinem neuen Buch, was Diktatoren und Demokraten unterscheidet, und Harald Jähner besucht die Goldenen Zwanziger.

Was bringt starke Persönlichkeiten an die Macht? Das ist die Kernfrage, die sich der vielfach ausgezeichnete Historiker und Bundesverdienstkreuzträger Ian Kershaw in seinem neuen Buch stellt. Die vorderhand banalste These des englischen Hitlerbiografen lautet: Machthunger. Der Wille zum Anführen. Also eine dem Charakter innewohnende, andere Eigenschaften noch dominierende Veranlagung. Nachfolgend sind es dann die historischen Umstände, die Menschen zu Anführern machen.

„Aber sie waren nicht nur Macher der Geschichte, sie wurden von der Geschichte gemacht“, schreibt Kershaw einmal in Der Mensch und die Macht (DVA, 36 Euro). Der Untertitel „Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert“ gibt die Perspektive vor: In diesem leserfreundlich geschriebenen Buch steht der Völkermörder Adolf Hitler neben dem „Kanzler der Einheit“, Helmut Kohl. Die nüchterne Wissenschaft erlaubt parallele Gedankenführungen. Kershaw porträtiert außerdem unter anderem Churchill, Stalin, Tito.

En passant entblättert sich bei der Lektüre das Porträt eines Jahrhunderts, in dem alles mit allem zusammenhängt. Dass Kershaws unschuldiger Gebrauch der Vokabel „Führer“ bei deutschen Lesern spezielle Assoziationen hervorruft, ist der schlagende Beleg, dass Macht oft in der Hand der Falschen lag. Bedauerlicherweise ist das Erbe der Diktatoren größer als das von Demokraten – ein Schluss, den die Lektüre dieses guten Übersichtswerks zulässt. Autor Ian Kershaw stellt sein Werk am 25. Oktober in der Stabi vor, Veranstaltungsbeginn ist 19.30 Uhr.

Harald Jähner: Als die moderne Welt Gestalt annahm

Hitler ist der Bezugs-, der Schlusspunkt von Harald Jähners Epochenbild „Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen“ (Rowohlt, 28 Euro). Jähners preisgekrönte und auch in der englischen Übersetzung vielgelesene Studie über die unmittelbare Nachkriegszeit („Wolfszeit“) kann insofern als Folie für diesen Nachfolger gelten, als auch hier stilistisch glänzend, fachlich akkurat und mit bewundernswert weitschweifendem Blick fesselnd über historische Ereignisse und Mentalitäten geschrieben wird. Dass in den „Goldenen Zwanzigern“ sowie dem direkten Davor und Danach die moderne Welt einen ersten Ausdruck fand in ihrer Widersprüchlichkeit, wird in diesem Buch in leuchtenden Farben dargestellt.

Jähner gelingt es, Alltags- und Kulturgeschichte so ins Licht zu rücken, dass ein Tableau aus Wiedererkennbarkeit unserer Gegenwart, aber auch, so hofft man, völliger Fremdheit entsteht. So dauererregt die deutsche Gesellschaft heute auch sein mag, ist sie nichts im Vergleich zum Treibhaus der Zwischenkriegszeit. Jähner erzählt von der Wiederaufrichtung nach der Niederlage, der ganz kurzen Blüte der Republik und dann: den Nazis. Das alles im Spiegel des Gesellschaftslebens, der Kultur, der Mode, der Trends in Freizeit und Sport. „Höhenrausch“ ist die luzide Untersuchung eines faszinierenden Betrachtungsgegenstands.

Irene Hasenberg: In Ausschwitz bringen sie dich um

Irene Hasenberg Butters autobiografischer Bericht „Wir hatten Glück, noch am Leben zu sein. Entkommen aus Bergen-Belsen“ (Schöffling, 28 Euro) ist ein Buch über die Shoah – und als solches von immerwährender Relevanz. Die US-Amerikanerin Irene Hasenberg wurde mit ihrer Familie aus Berlin vertrieben, fand in Amsterdam wie Anne Frank eine neue Heimat, und entkam den Nazis doch nicht. Über das Durchgangslager Westerbork landeten die Hasenbergs – Vater John wuchs in Neumünster und Elmshorn auf – in Bergen-Belsen.

Aus bewusst kindlicher Perspektive beschreibt Irene Hasenberg die traumatischen Geschehnisse und die Gefahrenlage, die zunächst nur gerüchtweise besteht: „In Auschwitz geben sie dir nicht nur nichts zu tun oder zu wenig zu essen. Sie bringen dich um.“ Dieses Buch taugt fraglos zum Einsatz im Geschichtsunterricht.