Hamburg. Lindenberg, oder was? Der englische Starautor erzählt im Roman “Lektionen“ von der Liebe eines Teenagers. Und von Deutschland.

Als wir den Helden dieses Romans schon ein paar Jahrzehnte begleitet haben, von der Nachkriegs- in die Jetztzeit, landet er unsanft in einem Wasserlauf. In seinem Alter kann das kaum ohne Blessuren abgehen. In diesem Fall sind es ein paar angeknackste Rippen, die Roland Baines anschließend zu schaffen machen. Wobei die nichts sind gegen die Wunden, die das Leben insgesamt geschlagen hat. Roland Baines ist eine Leidensfigur des 20. Jahrhunderts, ein Taugenichts und Mann mit vielen Eigenschaften. Die früheste Erziehung seines Herzens erhält er als Teenager, als er in die Fänge seiner Klavierlehrerin gerät. Die ein knappes Jahrzehnt ältere Miriam Cornell macht den ganz jungen Baines zu ihrem Toyboy und versaut ihn damit grundsätzlich: Lust hat er später immer, binden kann er sich an keine.

Aber eine will und kann sich auch nicht an ihn binden. Alissa Eberhardt, mit der verheiratet ist und einen sieben Monate alten Sohn hat, verlässt die Familie Mitte der 1980er-Jahre, um in ihrem Heimatland zur Autorengigantin aufzusteigen. Das ist eine der vielen Geschichten, die Ian McEwans neuer und gewaltiger Roman „Lektionen“ erzählt: Welcher Preis zu entrichten ist, wenn man sich beruflich verwirklichen will. Wenn man eine Frau und Mutter ist und eine weltweit angesehene Schriftstellerin sein will.

„Lektionen“: Bei der Lektüre hat man Udo Lindenberg im Kopf

Aber Frauen sind moralisch zweifelhafte Figuren in diesem Roman, es ist der 17., der dickste (700 Seiten!) des englischen Meisterromanciers. McEwan hat zuletzt Romane über Künstliche Intelligenz („Maschinen wie ich“) und Boris Johnson („Kakerlake“) geschrieben. An ausgefallenen Zugängen zur Realität – in „Nussschale“ trat als Erzähler ein ungeborenes Kind auf – sparte der so eminent dem Erzählrealismus verpflichtete Autor nie. „Lektionen“ ist nun ein überaus traditionelles Erzählwerk. Ein ernster, gesetzter, weitgespannter Versuch, ein einerseits verdaddeltes, andererseits von speziellen Prägungen gestörtes Normalleben in den Blick zu nehmen.

Die dramatische Fallhöhe wird im ersten Drittel des Romans in die üppige Architektur dieses Romans und die gleichermaßen wechselhafte wie statische Biografie des Helden eingezogen. Der heranwachsende Roland Baines ist aus dem libyschen Paradies seiner Kindheit – sein Soldatenvater ist in Nordafrika stationiert – ins englische Internat übergesiedelt. Dort kommt es dann zur schicksalhaften Begegnung mit der Klavierlehrerin. Bericht aus den Lektüretagen: Man hatte tatsächlich, es war die Hölle, hartnäckig Udo Lindenberg im Ohr: „Und dann beim hohen C/Tat es wirklich ein bisschen weh“.

Romanfigur: Ein Leben als Hotelpianist und Tennistrainer

Diese popkulturelle Referenz spielt bei McEwan keine Rolle, wen wundert’s. Aber Deutschland ist dennoch eine mächtige Bedeutungsspur in „Lektionen“. Weil Alissa Eberhardt eine Deutsche mit englischer Mutter ist und Roland Baines, ihr Mann, dann Exmann, erst freiwillig, dann auch notgedrungen germanophil seiner Wege geht.

Diese Wege sind für einen Mann seiner Generation, aber besonders für ihn eigentlich vorgezeichnet. Im sich konsolidierenden Westeuropa, in einem Land mit Internaten, die bürgerliche Biografien heranzüchten, hat Roland eine manierliche Startposition. Wegen seiner frühreifen Erfahrungen verlässt er, der talentierte Pianist, die Schule aber ohne Abschluss. Sein Leben wird er als Jazzpianist in Hotels und Restaurants und Tennistrainer fristen.

Eine Zeitlang sieht er sich als Dichter und schreibt außerdem Artikel sowie Gebrauchstexte; reich wird er damit nie, im Gegenteil ist sein Leben eines mit finanziellen Sorgen. Er ist ein alleinerziehender Jedermann, ein Produkt der zeitlichen Umstände: Kubakrise, der Fall der Mauer und der Brexit, später auch Corona sind die geschichtlichen Großereignisse, die sein Leben und das der Gesellschaft bestimmt, zu der er gehört.

Ian McEwan: Seinen Bruder lernte er erst als Erwachsener kennen

Wären da nicht die beiden Frauen, die seine Sehnsüchte und Abwehrhaltungen, die sein Streben nach Abrechnung befeuern. Die Mutter seines Sohnes wird Roland in den anarchischen Tagen des Mauerfalls in Berlin wiedersehen. McEwan, der diesmal auch, in einer früheren Episode aus Rolands Leben, von der DDR erzählt, gab dem Verlangen nach, deutsche und europäische Geschichte plastisch ins Bild zu rücken. Das betrifft auch die Weiße Rose, jene Gruppe von Hitler-Opponenten, die in Deutschland bekannter sein dürfte als beispielsweise in England. Alissas Vater bewegte sich im Umfeld der Gruppe, und so kommt es, dass „Lektionen“ ein historisch aufgeladener Stoff ist, in dem doch immer die Sorgen und Kämpfe eines Mannes im Mittelpunkt stehen, der sein eigenes Opfersein meist distanziert betrachten will.

Nicht nur, weil dieses stets fesselnde Buch im Kern eines über die Vergänglichkeit ist, ist es persönlich: Mit seinem 74-jährigen Schöpfer Ian McEwan teilt Roland Baines seine geografische und zeitliche Herkunft und auch die familiären Zustände. McEwan lernte erst als Erwachsener seinen zu Adoption freigegebenen älteren Bruder kennen und hat zwei Halbgeschwister, die fern der Familie aufwuchsen. Erst spät, zu spät, macht sein Romanheld, der so lange durchs Leben trieb, ohne anlanden zu können (Ausnahme: die Vaterschaft) die Erfahrung erfüllender Zweisamkeit. Leider ist Daphne nicht mehr viel Lebenszeit vergolten. Jahre nach ihrem Tod will er ihre Asche verstreuen. Dabei kommt es zum Sturz ins Wasser: Gestoßen hat ihn Daphnes Exmann, der schreckliche Brexiteer Peter Mount. „Lektionen“ handelt intensiv und metaphorisch von der englischen Gegenwartsgeschichte und ist doch auch McEwans großer deutscher Roman.