Hamburg. Nur 2500 Fans kamen zur Comeback-Show der Girlgroup in die Hamburger Barclays Arena – aber die erlebten ein überragendes Konzert.

Autsch! Der Blick in den Innenraum der Barclays Arena schmerzt am Sonntag geradezu. Nur offizielle 2500 Fans der No Angels verlieren sich auf den Rängen und im Saal, eine absolute Minuskulisse. Würden die Corona-Abstandsregeln an diesem Abend gelten, sie wären leicht einzuhalten. Aber immerhin wird das Konzert durchgezogen, drei Auftritte in Rostock, Erfurt und Zürich wurden aus dem Tourkalender gekippt, weil nicht genug Karten verkauft wurden.

No-Angels: Das Hin- und Her der Girlsgroup

Das ist auf dem ersten Blick doch ein bitteres Comeback für Lucy Diakovska, Jessica Wahls, Sandy Mölling und Nadja Benaissa. Vor 22 Jahren ging die Band aus der ersten Castingshow „Popstars“ auf RTL 2 hervor. Dieses Format war damals neu, sorgte für maximales Aufsehen, öffnete die Tür für eine lange Reihe Derivate („Deutschland sucht den Superstar“, „X Factor“, „The Voice Of Germany“) und machte die No Angels mit über fünf Millionen verkauften Tonträgern zu einer der erfolgreichsten Girlgroups in Europa – nach den Spice Girls.

Aber nach Konflikten innerhalb der Gruppe und Fehlentscheidungen im Umfeld war nach drei Jahren schon wieder Schluss. Die Zielgruppen widmeten sich lieber der frisch gecasteten Konkurrenz, die Jahr für Jahr zusammengedrillt wurde (Bro’Sis, PreLuders, Monrose, Nu Pagadi). Lucy, Jessica, Sandy und Nadja und der nie wieder aufgetauchte fünfte Engel Vanessa Petruo, heute anerkannte Neurowissenschaftlerin in Los Angeles, gingen getrennte Wege.

Das erste Comeback floppte beim „Eurovision Song Contest“ 2008

Comebackversuche gab es immer wieder, zum Beispiel 2008 mit der Teilnahme am „Eurovision Song Contest“ in Belgrad, wo die gefallenen Engel auf dem letzten Platz aufschlugen. Aber Jahr für Jahr, das immer neue kurzlebige Castingstars hervor- und wieder weg zauberte, wurde deutlicher, wie gut die No Angels eigentlich im Vergleich waren. Sie hatten wirklich Talent, tolle Stimmen (definitiv besser als die Spice Girls) und jede für sich Persönlichkeit.

So richtig zeigen durften sie das nur nie, „wir wollten uns sehr schnell sehr viel erkämpfen. Wir wollten sofort komplett live auf die Bühne, und wenn das nicht ging, waren wir sehr verärgert und traurig“, erzählte Lucy Diakovska vor einem Jahr im Abendblatt-Interview.

No Angels: Comback der Girlgroup in schwierigen Zeiten

Jetzt können sich die Vier endlich den alten Traum erfüllen. Mit dem Album „20“ meldeten sie sich 2021 mit 20 modern arrangierten alten Hits und einigen neuen Songs zurück und waren bereit für die Bühne, auch wenn Lucy schon ahnte, dass es nicht einfach werden würde: „Wenn es wieder los geht, müssen erst mal Hunderte Bands ihre ausgefallenen Touren nachholen.“

Genau in dieses Zeitfenster fiel jetzt ihre Tour: In der Arena ist Dauerbetrieb bei Kaufunlust, gestiegenen Energie- und Produktionskosten und Welt-Krisenlage. Man sieht schon an der Bühne, dass auf jeden Euro geachtet werden muss: Spartanischer, nur mit ein paar Lichtern im Gepäck, ist wohl seit den Eagles 2009 keiner mehr in Hamburgs Arena aufgetreten.

Die Tour-Musikerinnen der No Angels sind erste Liga

Aber als die Tour-Band der No Angels auf die Bühne kommt, sieht der Kenner sofort, dass an der Musik ganz und gar nicht nicht gespart wurde. Bassistin Julia Hofer und Gitarristin Yasi Hofer gehören zum absolut Besten, was in Deutschland an vier und sechs Saiten zu erleben ist.

Zusammen mit der Keyboarderin und musikalischen Leiterin Lisa Müller und – der einzige Mann auf der Bühne – Schlagzeuger Jens Golücke wird für einen erdigen wie mächtig schiebenden Rock-Pop-Sound gesorgt, für einen perfekt ausgelegten Teppich, über den Lucy, Jessy, Nadja und Sandy 100 Minuten dahingleiten werden.

Lucy: "Hamburg, meine Perle, habt ihr Bock?"

Der Jubel, als die No Angels nach dem passenden Rolling-Stones-Intro vom Band – „Sympathy For The Devil“ – gleich mit dem ersten Hit „Daylight In Your Eyes“ einsteigen, zeigt gleich, wo hier den ganzen Abend lang die Messlatte liegen bleiben und nicht mehr absinken wird: ganz oben.

Obwohl viele der Fans beim Casting der No Angels noch im Kindergartenalter gewesen sein dürften, ist sofort absolute Hingabe zu spüren, kompromisslose Liebe, lange gehegte und endlich erfüllte Sehnsucht. Okay, hier will jemand definitiv Spaß haben: „Hamburg, meine Perle, habt Ihr Bock?“, ruft die einst in der Hansestadt lebende Lucy. Die Perle hat aber sowas von Bock!

Die Tanzfiguren der No Angels erinnern an The Four Tops

Schnell hält es auf den Rängen niemanden mehr auf den Sitzen, Arme werden zu Propellern bei „Someday“, und die No Angels lassen sich davon inspirieren und fangen an zu Headbangen, als Yasi Hofer bei „Goodbye To Yesterday“ für ein Solo wild über die Bünde schrubbt. Die Spielfreude macht schier fassungslos. Dabei ist die ganze Show gezwungenermaßen sehr bodenständig.

Ausgefeilte, perfekt getimte Wunder der Choreographie, wie sie in der Barclays Arena dieses Jahr bei Dua Lipa zu erleben waren, haben sich die Vier nicht antrainiert, die Tanzfiguren erinnern eher an The Four Tops. Allerdings sind die No Angels auch schon in den 40ern, in den Roaring Forties, und haben sich bei „When The Angels Sing“ eine Pause auf Hockern wahrlich verdient.

Konzert der No Angels: Das Publikum ist gebannt

Gesanglich sind Sandy, Nadia, Lucy und Jessy jedenfalls trotz der eher mauen Arena-Akustik über jeden Zweifel erhaben. Alle Stimmen sind gut herauszuhören, die Harmonien sitzen – und die Live-Arrangements von „Disappear“ und „Something About Us“ sind deutlich interessanter als die Albumversionen. In der zweiten Hälfte, als die No Angels von bonbon-buntem Tüll auf klassisches Schwarz wechseln, überzeugen auch die Kostüme. Eine richtig, richtig gute Show.

Ein kurzer Blick in den Umlauf zeigt, wie gefangen das Publikum ist. Selten ist bei Konzerten in der Barclays Arena so eine gähnende Leere an den Getränkeständen und auf dem Raucherbalkon zu beobachten. Niemand scheint auch nur eine Minute des Konzerts verpassen zu wollen. Es ist nicht das erste Konzert der No Angels in Hamburg. Und hoffentlich ist es auch nicht das letzte. Das wäre nämlich wirklich schade.

„There Must Be An Angel“ ist von ergreifender Schönheit

Der absolute Höhepunkt ist das Eurythmics-Cover „There Must Be An Angel (Playing With My Heart“), das sich am Ende zu einem dramatischen Wechselgesang zwischen Band und Fans in einer Schönheit steigert, dass Freudentränen nicht übertrieben wären. Die verschiedenen Vorbehalte, die man angesichts der Geschichte der No Angels, ihrem Castingband-Stigma und der leeren Reihen haben könnte, lösen sich spätestens jetzt in Wohlgefallen auf. Das ist echt, die leben alle für den Moment hier. Das ist alles, was Pop wecken soll.

Die beiden Zugaben „We Keep The Spirit Alive“ und „Rivers Of Joy“ beschließen einen herrlich nostalgischen Abend, der in seiner emotionalen Wirkung vielleicht so zu erwarten war, aber nicht in der musikalischen Qualität. Er hätte wirklich mehr Publikum verdient gehabt. Aber die, die da waren, wirkten wie ein eingeschworener, vertrauter Kreis, der sich ganz sicher sein darf, etwas sehr Besonderes erlebt zu haben. Und so ruft der Chor: „Einmal No Angel - immer No Angel!“