Hamburg. Zum Auftakt ging es in Hamburg um wagemutige Frauen. Und: In der Elbphilharmonie wurde ein Bestsellerautor zum Dozenten.
Am Sonntag, das lässt sich sagen, hatte Hamburgs großes Literaturfest schon einen ersten Höhepunkt. Nämlich als Carolin Emcke und Anke Engelke in der Laeiszhalle einen so verblüffenden wie erwartbaren, so komischen wie bitter ernsten Streifzug durch die Literaturgeschichte unternahmen, auf der Suche nach eigensinnigen Frauen, die Rollenbilder und geschlechtsspezifische Deklassierungen hinterfragten. Damit war ein zweites Thema des Harbour Front Festivals gesetzt.
Das erste war am Freitagabend, bei der Eröffnung des bis zum 22. Oktober laufenden Lesewochen, der Ukrainekrieg. Da ging es auch um einen der Festivalgeldgeber: Über Klaus-Michael Kühne und die Vergangenheit seiner Firma wird derzeit viel geredet. Diesmal fand sich ein Fürsprecher, der den Milliardär und Mäzen in Schutz nahm.
Anke Engelke beim Harbour Front Festival in Hamburg
Die Friedenspreisträgerin Carolin Emcke und die Fernsehentertainerin Anke Engelke sind Fürsprecher weiblichen Selbstbewusstseins, weiblicher Stärke, und sie haben sich auf die Suche nach den literarisch besten Stellen gemacht, die auch vom Gegenteil erzählen. Die bezeugen, warum Frauen aller Generationen – bis hin zu den heute jungen Geschlechtsgenossinnen – Abbilder von genau Gegensätzlichem fanden, wenn sie Bücher lasen, in denen Frauen nicht nach Autonomie strebten und nach Wagemut strebten.
Bücher, die Widerspruch provozieren oder, besser, Trost spenden, weil die Romanheldinnen sich von traditionellen Erwartungen freimachen und eigensinnig sind. Das war ja der Titel der ganz überwiegend von weiblichen Besuchern besuchten Veranstaltung: „Über eigensinnige Frauen“.
Beauvoir, Winterson, Kiyak: Das war Dynamit
Es wurde ein exzellenter, glorreich geglückter Sonntagvormittag in der Laeiszhalle, was an Emckes klugen Einlassungen („Ich war in der Zwischenzeit so selbstverständlich in den männlichen Blick eingewöhnt“) und vor allem den erschütternden und amüsanten Textstellen lag, die Engelke vorlas.
Was wurde zu Gehör gebracht? Natürlich Simone de Beauvoir („Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“). Dazu unter anderem Annie Ernaux, Mely Kiyak, Jeanette Winterson. „Dynamit in den Händen“, nannte Engelke die Heldinnen des Frauseins, staunte ungläubig („So geil, der Satz“) – und alle lachten mit, wenn völlig unmoderne Rollenverständnisdirektiven und Ratgebertitel („So befriedigen Sie Ihren Mann“) bemüht wurden. Literatur, gesellschaftliches Anliegen, unterhaltsamer Vortrag: Eine der überhaupt besten Veranstaltungen in der 14 Ausgaben umfassenden Festivalgeschichte.
Elbphilharmonie: Ferdinand von Schirach wie in einer Vorlesung
Dass die Elbphilharmonie ein guter Ort für Literaturveranstaltungen ist, hat Harbour Front hinlänglich bewiesen. Das galt auch für die Lesung Ferdinand von Schirachs am Sonnabendabend. Sein neuer Erzählband „Nachmittage“ versammelt in 26 kurzen Kapiteln viele Anekdoten, Lektürenotizen, vergängliche Begegnungen, Einsamkeiten auf Reisen, natürlich Schuld, natürlich Abgründe. Der Erzähler beobachtet die Irrungen und Wirrungen des eigenen Lebens, die manches Mal aus einem flüchtigen Moment entstehen. Eines bleibt mit dem Anderen unzusammenhängend und wird doch von dem charakteristischen Erzählton und Schirachs klarer Sprache zusammengehalten.
Die demonstrierte der Autor auch bei seiner Lesung. Schirach umwanderte das Rednerpult, adressierte seine Zuhörerschaft und wusste die Schmunzler auf seiner Seite. Viel vorlesen wolle er nicht, er brachte lieber Anekdote um Anekdote vor. Am Ende hielt Schirach ein Plädoyer für Gerechtigkeit. Das drohte in einen Vorlesungscharakter zu kippen – im Fallbeispiel kreisten seine Ausführungen um Gerechtigkeitsformeln mit Exkursen von Platon zu John Rawls.
Klaus-Michael Kühne: Bei der Eröffnung ging es auch um den Eklat
Musikalisch begleitet wurde er von Magdalena Hoffmann, die mit ihrem Harfenspiel die milde Melancholie unterstrich, die in den Geschichten mitschwingt, und so grandios spielte, dass sie ein eigenes Konzert hätte geben können.
Freitagabend bei der Eröffnung ging es erstmal um Misstöne. Der Hausherr spottete und hielt sich dabei, wie er gestand, selbst für einigermaßen „gemein“, aber er konnte es sich nicht verkneifen. Das Harbour Front Festival, das wie zuletzt immer in der Elbphilharmonie eröffnet wurde, habe es sich zur Gewohnheit gemacht, vor Beginn der Lesewochen für ein kleines Skandälchen zu sorgen. „Das ist sicher abgesprochen“, sagte Generalintendant Christoph Lieben-Seutter und meinte die Debatte um Klaus-Michael Kühnes Umgang mit der NS-Vergangenheit seines Unternehmens. Der sorgt nach mit Auftrittsabsagen garnierten Autorenprotesten derzeit stärker denn je für Kritik.
Behrendt sprach für den Mäzen in die Bresche
Aber derlei ist ja auch PR und nützt Kartenverkäufen, so Lieben-Seutter auch in Erinnerung an die Aufregung um Lisa Eckhart vor zwei Jahren. Die Causa Kühne wiederum blieb nach Lieben-Seutters knappen Begrüßungsworten präsent an diesem Abend, zumindest eine Weile. Wo sich Festival-Co-Leiterin Petra Bamberger vieldeutig äußerte („Wir danken allen unseren Förderern, aber wir sind vor allem unseren Autorinnen und Autoren verpflichtet“), sprang Michael Behrendt für Klaus-Michael Kühne in die Bresche. Die kritischen Stimmen hätten ihn betroffen gemacht, sagte das Mitglied des Kühne-Stiftungsrats, „er war sieben Jahre alt bei Kriegsende“. Wie viele andere Unternehmen hätte sich Kühne + Nagel dem Regime nicht entziehen können, „das hat Kühne offen eingeräumt und bedauert“. Behrendt verwies auf das „beeindruckende gesamtgesellschaftliche Engagement“ der Kühne-Stiftung.
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Denn es sollte und soll ja um Literatur gehen. Finanziert wird die in puncto Harbour Front Festival künftig hauptsächlich von zwei anderen Geldgebern, der Hapag-Lloyd Stiftung und der Bodo Röhr Stiftung, wie Petra Bamberger auch an dieser Stelle sicher nicht unabsichtlich abermals erklärte. Michael Behrendt ist praktischerweise auch in diesen Stiftungen vertreten, womit deutlich werden dürfte, dass der Fortbestand dieser wichtigen Literaturveranstaltung mit Behrendts Engagement durchaus zu tun haben könnte.
Und wie ist es um das Engagement der Literatur, wie ist es um die Bedeutung von Literatur allgemein in diesen Zeiten bestellt? Das sollte mit Blick auf den Ukrainekrieg erörtert werden. „Diktatoren fürchten sich vor Literatur, darin liegt die Sprengkraft dieser Kunst, die die Welt verändern kann“, sagte Kultursenator Carsten Brosda in seinem Grußwort.
Harbour Front Festival: Simone Buchholz sprach mit Ukrainer Andruchowytsch
Hauptprogrammpunkt des Abends war dann ein Bühnengespräch zwischen der Hamburger Autorin Simone Buchholz und dem ukrainischen Autor Juri Andruchowytsch. Letzterer ist die vielleicht wichtigste Stimme seines Landes und für den Westen ein beliebter Ansprechpartner, der tatsächlich viel zu sagen hat.
Im Gespräch mit Buchholz erklärte Andruchowytsch, dessen neuer Roman „Radio Nacht“ gerade in der Übersetzung erschienen ist, in fließendem Deutsch: „Auch in der Ukraine blickt man ausnahmslos in den Westen.“ Buchholz („Ich fühle eine große Wut auf mich selbst“) hatte gerade zur großen Selbstkritik angehoben – sie hat sich wie die allermeisten mit osteuropäischer Kultur und Literatur kaum beschäftigt.
Als Andruchowytsch von den russischen Angriffen auf ukrainische Bibliotheken erzählte, die so aussehen, dass unliebsame Autoren aus den Regalen verbannt werden („Es wurden auch Bücher verbrannt“), war er sich mit seiner deutschen Kollegin einig: In der autokratischen Angst vor der Literatur zeigt sich die Kraft der Literatur.