Hamburg. Zwei Journalisten haben sich auf einen Streifzug durch das Bühnenprogramm von 40 Hamburger Häusern begeben. Ihre Eindrücke.
Theaternacht, die 18.! Nach zwei Jahren coronabedingter Pause öffnen insgesamt 40 Hamburger Bühnen ihre Tore, um eine Nacht lang einen Einblick in ihr Programm zu geben – und Kampnagel bespielt die Shuttlebusse zwischen den Bühnen. Eine Journalistin (in kursiver Schrift) und ein Journalist sind mit unterwegs, zwischen Boulevard und Tanzperformance, zwischen Off und Staatstheater.
18.50 Uhr, Theater Altes Heizkraftwerk: Vor der ehemaligen Fabrikhalle hat sich eine Menschentraube gebildet. Die Stimmung ist ausgelassen: Ich beobachte die Menschen, die gleich einen Ausschnitt aus Ödön von Horváths „Niemand“ sehen werden. Von Jung bis Alt ist alles dabei, viele sitzen mit einem Getränk auf den abgewetzten Ledersofas vor der Tür. Auch Luna Meyer zur Capellen aus Altona startet die Theaternacht im Alten Heizkraftwerk. „Freunde von uns treten heute im Sprechwerk auf“, sagt die 22-Jährige. „Aber meine Freundinnen und ich sind Theaterfans und gucken uns noch andere Stücke an.“
Theater Hamburg: Nacht locker angehen lassen im Ohnsorg
Um 19 Uhr strömen dann alle in die Halle. Ich ergattere einen der letzten Stühle. „Dass so viele Menschen kommen, ist sehr bewegend für uns“, erklärt ein Mann aus dem Team noch. Auf einem Podest steht ein junger Schauspieler, spielt Geige, etwas schief, rau, die Töne erinnern an Kratzen auf Schmirgelpapier – und sind dennoch melodisch. Auf einer Leinwand wird ein Schwarz-Weiß-Video projiziert. Durch eine Hintertür geht der Blick auf eine Frau, die auf einem Stuhl sitzt. Vom Publikum aus scheint sie ewig weit weg.
19 Uhr, Ohnsorg Theater: Erstmal locker angehen lassen. Am Heidi-Kabel-Platz gibt es Tickets, also bleibt man gleich da. Es laufen: Szenen aus „Dat Frollein Wunner“, einer „musikalischen Komödie mit Gesang“ von Murat Yeginer, bisschen betulich, aber nicht ohne Charme. Und Yeginer freut sich so ehrlich über den warmen Applaus, dass man gar nicht anders kann: Man freut sich mit ihm.
Theaternacht heißt, sich ins Theater einfühlen können
19.30 Uhr, Schauspielhaus: Die Theaternacht-App meldet sich: Alle Backstage-Führungen im Schauspielhaus seien ausverkauft. Ausverkauft? Wo gab es denn einen Vorverkauf? Egal, dann also in den großen Saal. Hier spielen Ernst Stötzner und Daniel Hoevels Szenen aus Viktor Martinowitschs Moskau-Thriller „Revolution“. Und zeigen, wie man die Theaternacht nicht angehen sollte: mit echtem Theater. Der Stoff ist spannend, die Inszenierung von Dusan David Parízek stimmig, die Schauspieler agieren leidenschaftlich. Aber die Konzentration vermittelt sich nicht in der kurzen Zeit, man starrt auf die Bühne und fragt sich: Was machen die da?
Interessant: Theaternacht heißt eben nicht, dass man Theater schaut, Theaternacht heißt, dass man sich ins Theater einfühlt. Also gleich weiter in den Malersaal. Requisitenshow. Requisiteure demonstrieren Theatertricks: Blut spritzt, Gedärme werden durchs Publikum gereiht, Crashglas splittert. Möchte jemand von den Exkrementen probieren? Ist dann doch nur eine Mischung aus Schwarzbrot und Pumpernickel, sieht aber täuschend echt aus.
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Theaternacht heißt, auch kleinere Häuser entdecken
20 Uhr, Mut! Theater: In der Amandastraße angekommen, lässt Theaterchef Mahmut Canbay mich in den winzigen Saal. In dem Ein-Mann-Stück „Gedanken aus der Zelle“ steht Schauspieler Emrah Demir allein auf der Bühne. Die Wände sind schwarz und kahl. Gebannt lauscht das Publikum den Monologen: über Angst vor dem Tod, den Kampf mit der Einsamkeit und die Macht der freien Gedanken. Es ist die Rolle des verhafteten Schriftstellers und Erdogan-Kritikers Ahmet Altan. Claudia Rosberg (52) ist an diesem Abend zum ersten Mal im Mut! Theater: „Ich finde es toll, heute auch kleinere Theater zu entdecken.“
20.40 Uhr Shuttlebus: Ob ich eine der Linien erwische, in denen die freien Gruppen Jajaja und Boy Division im Auftrag Kampnagels performen? Nein. Der Bus in Richtung Altona ist aber auch gestopft voll. Kollektivperformance: Sardinenbüchse. Haha.
Theaternacht heißt, dass auch das Publikum mitsingt
21 Uhr Lichthof Theater: Mein letzter Stopp ist in Bahrenfeld. „Bärenland – Wilde Bilder“ heißt die Performance von Lois Barthels. Sie arbeitet mit Overhead-Projektor und einer Campinglampe und imitiert dabei die Begegnung mit einem Bären. Lange Zeit ist es fast vollständig dunkel. Die Schauspielerin verschwindet im grünen Anzug, als Busch getarnt, in der Dunkelheit, macht täuschend echte Bärengeräusche nach. Ein kurioser Auftritt, der unter die Haut geht.
21 Uhr, Staatsoper: Chordirektor Eberhard Friedrich probt „Va, Pensiero“ aus Verdis „Nabucco“. Allerdings nicht mit dem Opernchor, sondern mit dem Publikum. Und das singt lauthals mit: ein großer Spaß, aber auch ein Nachspüren dessen, was Theater sein kann. „Das Schöne an Musik ist: Man kann falsch sein“, meint Friedrich, „aber es kommt in aller Regel niemand wirklich zu schaden.“ So geht Theaternacht. Im Anschluss summt man noch durch ein paar Szenen aus Mozarts „Entführung aus dem Serail“, dann auf: ins Thalia, zur Aftershow-Party.