Hamburg. Theater will sich keinen Kriegsspielplan diktieren lassen. Und doch zeigt sich die Gegenwart auch in der Saison 2022/23 auf der Bühne.

Die Zukunft liegt jenseits unserer Vorstellungskraft. Sagt Joachim Lux, Intendant am Thalia Theater – und beschreibt damit einerseits treffend die gestiegene gesellschaftliche Unsicherheit und Ohnmacht, geprägt durch Pandemieerfahrungen und verstärkt durch einen Krieg, von dem wir womöglich ebenfalls erst den Anfang kennen.

Weil Lux mit dem Satz aber die Präsentation der nächsten Spielzeit am Thalia Theater einleitet, steckt keine Resignation darin, sondern Antrieb. Neugierde. Vielleicht sogar ein Funken Zuversicht. Das Theater jedenfalls ist fest entschlossen, die Zukunft mit Vorstellungskraft zu füllen.

Saison 2022/23 im Thalia Theater: Serebrennikov dreifach vertreten

Und es spannt dabei in der Saison 2022/23 einen denkbar breiten Bogen, geografisch, ästhetisch, kulturell. Vom Amerikaner Robert Wilson, der als „Black Rider“-Erfinder immer auch die Hamburger Theatergeschichte im Gepäck hat, wenn er hier inszeniert, zum Russen Kirill Serebrennikov, der nach dem großen Erfolg mit „Der schwarze Mönch“ nun gleich dreifach im Spielplan vertreten sein wird.

Zur Thalia-Pressekonferenz im Nachtasyl des Hauses ist er per Video aus Amsterdam zugeschaltet, wo er (so breit sind die kulturellen Bögen dann nämlich doch nicht) gerade eine Mischung aus „Freischütz“ und „Black Rider“ für die Oper probt.

Bob Wilson beschäftigt sich zum Saisonauftakt mit Stephen Hawking und Etel Adnan und will mit einer Uraufführung unter dem Titel „H – 100 seconds to midnight“ zurückkehren zu seinen Wurzeln der Minimal-Avantgarde. Serebrennikov, der in Moskau lange im Hausarrest saß und seine Heimat mittlerweile nach Westeuropa verlassen hat, wird eine Art Residenzkünstler.

Thalia für 9 Euro

  • Mit einer Rabattaktion für Gruppen lockt das Thalia Theater bis zur Sommerpause: Ab 16. Mai – sieben Wochen vor den Theater­ferien – darf ein Zuschauer sieben Theaterfreunde mitbringen, die jeweils nur 9 Euro bezahlen müssen.
  • Sechs Wochen vorher dürfen noch bis zu sechs Theaterbegleitungen für je 9 Euro mitgebracht werden, fünf Wochen vorher noch fünf weitere Zuschauerinnen oder Zuschauer – und so weiter.
  • Eine Woche vor der Sommerpause darf man immerhin noch einen Gast für 9 Euro mitnehmen. Regelmäßig gibt es zudem einen „Theatertag“, zu dem die Karten auf allen Plätzen um die Hälfte reduziert sind. Infos: thalia-theater.de/karten

Thalia Theater: „Wir lassen uns unsere Themen nicht einfach wegbomben!“

Er bringt nicht nur das musikalische Manifest „Barocco“ des Moskauer Gogolcenters mit, das ursprünglich schon bei den diesjährigen Lessingtagen gastieren sollte, und nun stattdessen im Mai 2023 Hamburg-Premiere feiert, sondern gleich drei mit ihm und nun also auch mit dem Thalia assoziierte Künstler: die russische Schauspielerin Viktoria Miroshnichenko und ihre Kollegen Odin Biron und Filipp Avdeev.

Schon im Dezember zeigt der Regisseur in der Gaußstraße die Uraufführung „Der Wij“ nach einer von Gogol notierten ukrainischen Volkssage, die sich bei Serebrennikov zur zeitgenössischen Erzählung über den Krieg weitet.

Einen „Kriegsspielplan“ wolle man sich dennoch keinesfalls diktieren lassen, betont Lux. „Wir lassen uns unsere Themen nicht einfach wegbomben!“ Und doch beschäftigen sich neben „Der Wij“ weitere Inszenierungen mit den östlichen Nachbarn: Den Mehrgenerationenroman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ (ein Zitat aus „Onkel Wanja“) von Sasha Mariana Salzmann, geboren in Wolgograd, bringt Hakan Savaş Mican im Oktober zur Uraufführung in der Gaußstraße. Joseph Roths „Hotel Savoy“ (dessen reales Vorbild noch heute existiert und in Polen an der Grenze zur Ukraine steht) wird von Charlotte Sprenger inszeniert, ebenfalls in der Gaußstraße. Sprengers kürzlich durch die Pandemie ausgefallene Premiere „Der Sandmann“ soll im Januar auf der großen Bühne nachgeholt werden.

Erstmals ebenso viele weibliche wie männliche Regisseure am großen Haus

Wenn Bob Wilson im Spätsommer die Hamburger Saison eröffnet, hat das Thalia Theater eine wichtige Premiere bereits gefeiert, südlich der Elbe: Als Koproduktion mit den Salzburger Festspielen kommt „Iphigenia“ im August auf der Pernerinsel heraus. Im September feiert die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak („Der Boxer“) mit ihrer explizit feministischen Sicht auf den Euripides-Stoff dann auch am Alstertor Premiere.

Übrigens inszenieren in diesem Jahr erstmals ebenso viele weibliche wie männliche Regisseure am großen Haus. Gesetzt ist Jette Steckel, die sich diesmal mit Camus befasst: In „Die Besessenen“ (Januar 2023) machen sich Nihilisten, Selbstmörder und Verrückte gegenseitig das Leben zur Hölle. Anna-Sophie Mahler, die Dörte Hansens „Mittagsstunde“ kongenial adaptierte, kümmert sich im November um „Die Rache der Fledermaus“: betörende Operetten-Melodien, versetzt mit einem Klimakrisen-Kommentar des Dramatikers Thomas Köck.

Eine spannende Rückkehrerin ist die Regisseurin Anne Lenk, die früher am Thalia arbeitete (der Longseller „Räuberhände“ steht noch immer im Spielplan der Gaußstraße), ihre große Karriere dann aber unter anderem am Deutschen Theater Berlin machte. Nun kommt sie mit Tschechows „Drei Schwestern“ auf die große Bühne. Nicht nur der berühmte Sehnsuchtsausruf „Nach Moskau!“ dürfte hier eine besondere Aufmerksamkeit erfahren, sondern – Thalia-Dramaturgin Julia Lochte weist im Nachtasyl eigens darauf hin – auch die Präsenz des Militärs im Stück, das man sonst „eher weginszeniert“ habe.

Thalia Theater: „Alles wird teurer, wir nicht“

Große Publikumsresonanz erhofft man sich mit Shakespeares „König Lear“ (Regie: Jan Bosse, Premiere: März) und einer Komödie über ein familiäres Grünkohlessen, die Leander Haußmann und Musiker-Bestsellerautor Sven Regener („Herr Lehmann“) derzeit gemeinsam schreiben. „Intervention!“ lautet der Titel, „wir versuchen noch, in Telefonaten herauszubekommen, worum es eigentlich geht“, scherzt Lux. Erste Dialoge seien jedoch vielversprechend.

Das ist auch dringend nötig. Denn das Haus sei zwar „akzeptabel durch die Corona-Zeit gekommen“, der Kartenverkauf nach Kriegsbeginn aber „nahezu zum Stillstand gekommen“, wie der Intendant feststellen musste: „Die Leute halten ihr Geld zusammen.“ Damit das Publikum trotzdem kommt, lautet ein Motto der Spielzeit darum: „Alles wird teurer, wir nicht.“

Es dürfe keine sozialen Gründe geben, die die Menschen vom Theater ausschließen, betont Joachim Lux. „Wenn im Publikum keiner sitzt, verliert das Theater seinen Zweck.“ Und er macht eine Rechnung auf, die den gestiegenen Gegenwert ganz konkret verdeutlichen soll: „Man kommt jetzt schon für weniger als fünf Liter Benzin ins Theater!“