Hamburg. Das sechsköpfige Ensemble, das ausschließlich in London gecastet wurde, liefert eine starke Inszenierung von „Great Expectations“.

Es gehört Mut dazu, einen 800-Seiten-Roman, der zu den Klassikern der englischen Literatur gehört, in einem kleinen Privattheater auf die Bühne zu bringen. Paul Glaser, Managing Director am English Theatre traute sich und macht aus Charles Dickens’ „Great Expectations“ einen äußerst gelungenen Theaterabend.

Glaser hat nicht nur Regie geführt, sondern für die dreistündige Aufführung auch die Textfassung und die Musik geschrieben. Die Handlung des Romans über den Waisenjungen Pip und seinen unbekannten Gönner ist komplex, es gibt eine Reihe von Verwicklungen zwischen den Hauptfiguren, die erst nach und nach enthüllt werden. Doch Glasers Fassung ist einleuchtend. Nur sechs Schauspieler, die insgesamt zwölf Rollen übernehmen, machen aus dem Bildungsroman ein spannendes und kurzweiliges Theatererlebnis.

Great Expectations: Alle Schauspieler wurden in London gecastet

Glaser überbrückt die vielen Szenenwechsel durch einen Erzähler, der Zeitsprünge und Ortswechsel deutlich macht. Auch die Musik hilft, die notwendigen Umbaupausen zu füllen, sodass die Inszenierung nie an Tempo verliert. Das Bühnenbild (Matthias Wardeck) gewinnt Tiefe durch Videoprojektionen mit Ansichten von dunklen Gassen in London oder einer mäandernden Flusslandschaft in der britischen Provinz. Selbst ein großes Boot bringen Glaser und Wardeck auf die nicht sehr geräumige Bühne und simulieren ein Unwetter auf See mit heftigem Wellengang.

Von hoher Qualität ist auch das Spiel der sechs Akteure, die Glaser in London gecastet hat. Aus mehr als 200 Bewerbungen für die sechs Rollen konnte er auswählen. Besonders auffällig ist der erst 25 Jahre alte Dominic Charman in einer Doppelrolle. Zuerst spielt er Pips ältere Schwester als eine kratzbürstige Hausfrau und Ersatzmutter, später Pips Freund Herbert Pocket. Er soll dem Jungen vom Lande Manieren, Bildung und Kultur vermitteln. Charmans Herbert agiert mit mit großer Eleganz und Schlagfertigkeit.

Eine Frau, die seit Jahrzehnten ihr Brautkleid nicht ausziehen mag

Theo Watt als Pip, auch erst 24 Jahre alt, muss sich vom ungehobelten Landjungen, der den Tee aus der Untertasse schlürft und mit Messer und Gabel wenig anfangen kann, in einen versnobten Großstadtjüngling verwandeln. Das gelingt ihm famos, er sprüht vor Energie.

In dem sechsköpfigen Ensemble gibt es keinen Schwachpunkt: Jonny Magnanti spielt Joe, den Schmied, und Magwitch, den Sträfling und späteren Förderer von Pip. Mit seinem Slang macht er auch in der Sprache den Unterschied zur feinen Londoner Gesellschaft deutlich. „Great Expectations“ hat auch viele komische Momente. Für die ist vor allem Charles Cromwell als Mr. Jaggers verantwortlich. Wenn der Anwalt Pip mit sonorer Stimme belehrt, klingt es, als würde jemand amtliche Verlautbarungen vorlesen.

Michelle Todd verleiht Mrs. Havisham, die seit Jahrzehnten ihr Brautkleid nicht ausziehen mag, eine obskure Aura und Naomi O’Taylor schließlich gibt die eigentlich reizende Estella als kühle junge Frau, der es an Empathie fehlt. Das Publikum ist von dem Spiel zu Recht hingerissen und man wünscht „Great Expectations“ mit dieser überzeugenden Inszenierung am English Theatre noch viele Zuschauer.

„Great Expectations“ , läuft bis 29.10., English Theatre, Lerchenfeld 14, Karten unter T. 040/2277089; www.englishtheatre.de