Hamburg. In seinem neuen, brillanten Roman „Vier Tage, drei Nächte“ vermisst der Hamburger Autor und Preisträger eine Geschwisterliebe.

Norbert Gstrein ist auf einem Höhepunkt seines Ruhms angekommen. Thomas-Mann-Preis, Finale beim Deutschen Buchpreis. Als Verlag hat man es bei einem Schriftsteller wie dem in Hamburg lebenden Österreicher wirklich gut getroffen, denn man kann die Welle gleich weiterreiten: Ein Jahr nach dem meisterhaft gelungenen Roman „Der zweite Jakob“ erscheint nun gleich das nächste Buch. Es heißt „Vier Tage, drei Nächte“ und ist die Fortschreibung von Gstreins bemerkenswert konsequent ins Werk gesetztem literarischen Programm.

Man bekommt nämlich sofort das Gstrein-Feeling, ein Lektüregefühl des gelegentlichen Stutzens, das im Fortgang des Lesens vom steten dunklen, existenziellen Summen des Textes immer weiter genährt wird. Gstrein-Romane sind, in diesem Sinne, Lieder des Zweifels. „Vier Tage, drei Nächte“ ist der nächste Hit des Autors, in dem man auf einen doch über manche Maßen auskunftsfreudigen Erzähler trifft, der aber seiner eigenen Geschichte nicht traut, der Stabilität seiner Identität. Dies teilt sich – auf eine Weise, wie es nur dieser Autor zu bewerkstelligen versteht – den Leserinnen und Lesern fortwährend mit. In „Vier Tage, drei Nächte“ erzählt Norbert Gstrein dabei so radikal wie nie vom Wunsch nach Selbstvernichtung.

Buchkritik: Elias ist ein erwachsener Mann

Elias entstammt einer Tiroler Hoteliersfamilie. Der Vater ist ein selbstgerechter Pa­triarch, der nach eigenen Gesetzen lebt. Zwei uneheliche Kinder hat er. Eines davon, die in Deutschland aufwachsende Ines, ist in etwa genauso alt wie Elias. Sie ist jedes Jahr zu Gast in den Bergen, und sie ist Elias’ Freundin und Gefährtin in diesen Wochen. Und, auch das, das erste Wesen, in das er verliebt ist.

Norbert Gstrein: „Vier Tage, drei Nächte“, Hanser-Verlag, 352 S., 26 Euro.
Norbert Gstrein: „Vier Tage, drei Nächte“, Hanser-Verlag, 352 S., 26 Euro. © Hanser Verlag

Das ist jedenfalls der Schluss, den man als Leser zieht. In der Erzählgegenwart ist Elias ein erwachsener Mann jenseits der 30, nach einem gescheiterten Studium und ebenso gescheiterter Ausbildung zum Helikopterpiloten beruflich als Steward tätig und seiner Halbschwester treu ergeben. Über die Verwandtschaft informierte der Vater beide im Teenageralter. Anschließend teilten sich die Germanistin Ines und ihr Bruder einen Liebhaber, verachteten gemeinsam den Vater und sind jetzt, es ist Lockdown und Corona-Ausnahmezustand, in Berlin gestrandet. Dort stößt Carl zu ihnen, der Lebensgefährte von Elias, und es beginnt ein Dreiecksverhältnis, in dem sich alte Sehnsüchte und neue Begierden offenbaren.

Rhythmus ihrer Sätze von einer Ruhe getragen

Der Sound von Gstreins Prosa, der Rhythmus ihrer Sätze, ist von einer Ruhe getragen, in der sich deren Gegenteil freilich nie ganz versteckt. Die Erzählungen von Gstreins literarischen Helden sind Tiefenbohrungen. Im Stollen der eigenen Biografie treffen sie auf böse Geister. Der Dämon in Elias’ Leben ist die unmögliche Liebe zur Schwester. Der Roman ist ein psychologisches Kammerspiel. Sollte man sich je gefragt haben, wie ungesunde Nähe zwischen Menschen aussieht, dann wäre diese hier passendes Anschauungsmaterial.

Was passierte beim Wanderausflug in den Rocky Mountains? Warum stolperte der neue Lover von Ines, und zwar so, dass er ins Hospital musste? Nein, als Leser traut man Elias nicht mehr recht über den Weg. „Vier Tage, drei Nächte“ ist elegant komponiert und erzählt in weiten Bögen über eine Familie mit einer komplizierten Dynamik aus Nähe und Distanz. Wie von selbst fließen die Themen ineinander, Geschwisterliebe, Corona, Stalking, Rassismus, Migration – all dies entblättert sich in der Dreierkonstellation Ines, Elias und Carl, die zuerst in Berlin und später auf Sizilien ihren Auftritt hat.

Liebestölpel Ulrich torkelt auf die Bildfläche

Wenn es im Falle der Geschwister um ein Begehren geht, das Grenzen kennt, gibt es auch sein Gegenteil, das entgrenzte. Wie herrlich torkelt der Hamburger Liebestölpel Ulrich auf die Bildfläche und wie viel Spaß scheint es seinem Erfinder Gstrein zu bereiten, jenen Ines-Hörigen jede Würde auszutreiben! Ein Familienvater, der in die hanseatische Noblesse eingeheiratet hat und dies, in Leidenschaft zur launenhaften Ines entbrannt, alles aufs Spiel setzt: Die Komik ist schlagend, aber nur für den Augenblick.

Auch Elias’ Rolle in dem Ganzen, als Türsteher zum Herzen seiner Schwester, hat etwas Krankhaftes. Zusammen führen die Geschwister ein einstudiertes Stück auf, in dem ihr keiner gut genug ist. Für ihn gilt das Gleiche, jeder verschwundene Lover ist ein Triumph. „Vier Tage, drei Nächte“ führt vor, inwieweit menschliche Beziehungen auf Projektionen beruhen. Ausgelagerte Gefühle führen zu Handlungen und Haltungen. Gstrein webt mit Raffinesse ein Beziehungsnetz, in dem die Gewichte ungleich verteilt sind.

Konflikte spitzen sich zu

Beim Lockdown-Aufeinandertreffen – Corona ist in diesem Roman die klaustrophobische, lagerkollernde Angelegenheit, die sie tatsächlich stellenweise war – spitzen sich die unterschwellig gärenden Konflikte zu. Der Vater als Urheber des Liebes-Dilemmas, der Kinder mit verschiedenen Frauen zeugte, ist der ferne Mensch, der sich weiter um nichts schert. In seinem Hotel will er keinesfalls, entgegen den Vorgaben des Gesetzgebers, die saisonale Sause aussetzen. Der Touri-Hotspot in literarisierter Form: Als Motiv in einem souverän geplotteten Roman ist das ein Zeitgeist-Marker, der sich ganz natürlich in die Handlung fügt.

Elias imaginiert im Fortgang des Geschehens sein eigenes Verschwinden aus dem losen Dreierbund. Eine Selbstaufgabe, über deren Motivation man spekulieren kann; wie überhaupt „Vier Tage, drei Nächte“ in seiner Vielschichtigkeit den Ruf Gstreins bestätigt – als einen der interessantesten Autoren der Gegenwart.

Buchkritik: Das Ende ist brilliant

Das Ende ist brillant und schafft das Kunststück, Rassismus, Flüchtlingskrise, die Frage nach Dazugehörigkeit und das Vermögen der Literatur, in eine fremde Haut schlüpfen zu können (oder eben nicht), in Szenen zu fassen, die von großer Anschaulichkeit sind. Ein in Deutschland aufgewachsener Mann, ein Mischling, der aus Trotz afrikanischen Migranten Getränke spendiert, was für ein Bild über den immerwährenden Spalt in der Welt.

Norbert Gstrein stellt seinen neuen Roman am 24.8. im Literaturhaus vor, Beginn 19.30 Uhr.