Hamburg. The Philadelphia Orchestra und Yannick Nézet-Séguin eröffneten die Elbphilharmonie-Spielzeit mit großartigen Solistinnen.

„Angeber” war das erste Wort, dass dann aber doch nicht spontan in den Notizen landete. Einige Jahre ist es her, dass – ganz wichtig fürs Tutti-Ego – „The“ Philadelphia Orchestra vorführte, wie sehr es zu den besten, beeindruckendsten Orchestern der Welt zählt. Nun also gleich zwei Termine hintereinander im Großen Saal der Elbphilharmonie, der zweite wegen der programmpolitischen Untertöne zur Saisoneröffnung deklariert, und diese All-Star-Band benötigt etwa viereinhalb Takte, bis die Extra-Klasse glasklar im Raum steht. Das liegt auch an Yannick Nézet-Séguin, dem der Job als Chefdirigent unter solchen Idealumständen garantiert Vergnügen bereitet. Aber eben längst nicht nur.

Die sind alle, bis ans letzte Pult, von Haus aus so toll, und wissen das alle ganz genau. Was allein die Holzbläser in den ersten Momenten von Szymanowskis Violinkonzert aus dem sprichwörtlichen Ärmel schüttelten, um die dafür nötige, zauberhafte Atmosphäre zu skizzieren, wäre Szenen-Applaus wert gewesen. Sie rollten der Gast-Solistin Lisa Batiashvili einen Klangteppich aus, wie man ihn sich sinnlicher, farbensatter und raffinierter kaum wünschen kann. Nicht die klitzekleinste Unschärfe, alles perfekt aufeinander abgestimmt, noble Selbstverständlichkeit, passgenaues Feingefühl.

Konzertkritik: Nézet-Séguin bekam spielend von allen alles

Derart liebevoll umsorgt, lässt es sich entsprechend frei durch das Stück gleiten. Szyma- wer? Frühes 20. Jahrhundert, Pole, ein zu unbekanntes Meisterwerk, nicht mehr spätestromantisch, mondän und unfassbar zugleich, wie geschrieben für den seidig klugen Ton Batiashvilis. Fein fing es an, bravourös ging es weiter, mit Chaussons „Poème“. Etwas konventioneller, genauso lieblich und durchglüht von Leidenschaft.

Auch hier hatte man das angenehme Gefühl, Nézet-Séguin bekäme spielend von allen alles, ohne es fordern zu müssen. Rauschender, selig verzückter Beifall auch hier. Erste Zugabe, mit Nézet-Séguin am Flügel, war Debussys lauschige Sonnenuntergang-Vertonung „Beau soir“, die zweite spielte auf Batiashvilis Heimat an, Alexej Machavarianis „Doluri“.

Nézet-Séguin entschiedene Gegnerin von Putins Regime

Als politisch engagierte, entschiedene Gegnerin von Putins Regime, das auch vor ihrem Heimatland Georgien nicht Halt gemacht hatte, trug sie ein Abendkleid in den ukrainischen Nationalfarben; Nézet-Séguin dirigierte als Orchester-Zugabe Silvestrovs trauerschwere „Prayer for Ukraine“.

Weitere heroische Töne gab es nach der Pause, mit Beethovens „Eroica“, von Nézet-Séguin mit schnellen Tempi und knackig federnden Akzenten spannungsgeladen gestaltet. Keine überflüssige, lähmende Bedeutungsschwere, makellos gestaltete Balance-Großartigkeiten im Holzsatz. Von hinten trieb der Paukist das Stück vor sich her, im Trauermarsch knarzten die Kontrabässe delikat aus dem Partitur-Keller, das Finale war eine wahre Freude, auch ohne den erst später im Beethoven-Werkkatalog anstehenden Götterfunken.

Samuel Barber war Ausnahme und Minderheit

So umwerfend gut die erste Runde auch war, sie genügte nicht, um die Bandbreite in Gänze vorzuführen. Einen Abend später wurde es spezieller, es wurde woker. Samuel Barber – eindeutig keine afroamerikanische Komponistin aus den USA – war Ausnahme und Minderheit. Sein „Knoxville: Summer of 1915“ war eine nostalgische Elegie auf einen Text von James Agee über ein Kleinstadt-Idyll wie auf jenen Bildern, mit denen Norman Rockwell traditionelle Werte überzuckerte. Die Sopranistin Angel Blue beschwor diese Vorgestrigkeit mit zartem Respekt vor der Sehnsucht nach einer für viele guten, alten Zeit. Für das Orchester kein Problem, diese Americana-Traditionssicherheit steckt tief in seiner DNA.

Sopranistin Angel Blue sang am zweiten Konzert-Abend.
Sopranistin Angel Blue sang am zweiten Konzert-Abend. © Daniel Dittus

Als Plädoyers fürs Umdenken und Umhören sollten aber Stücke abseits des Werke-Katalogs wichtiger sein. „Leyendas: An Andean Walkabout“ von Gabriela Lena Frank, derzeit „composer in residence“ des Orchesters, war in dieser Hinsicht etwas zu gut gemeint. Franks Stammbaum wurzelt in vielen Ländern und Regionen, ihre Musik spiegelt das durch Anspielungen auf Folklore-Einflüsse sehr deutlich, aber auch leicht beliebig wider. Ungleich eindringlicher war dagegen Valerie Colemans „This Is Not A Small Voice“ (2021), als stolze, selbstbewusste Forderung, gesehen und nicht noch länger übersehen zu werden.

Konzertkritik: Price’„Adoration“ war der Bonustrack

Florence Price’ 1. Sinfonie, krönender Abschluss des Gastspiels, ist rein handwerklich eher kein geniales Meisterwerk, dafür sind die regelgehorchenden Formalitäten im Aufbau zu hörbar, die vielen Rückverweise zu Dvoraks „Neuer Welt“ und dessen Umgang mit Spirituals, sogar zur Terrassen-Dramaturgie einer Tschaikowsky-Sinfonie. Aber: egal. Ihre erste von vier Sinfonien war ein epochales Pionierinnen-Ereignis, als sie 1933 vom Chicago Symphony uraufgeführt wurde. Die erste Sinfonie einer Afroamerikanerin, so prominent gestartet! Und danach, bis vor Kurzem, ebenso rasant wie ungerecht in Vergessenheit geraten.

Nézet-Séguin und Philadelphia haben sie als ihre wohl prominentesten Fürsprecher mustergültig eingespielt. Auch live bezauberte der üppige, schlackenlose Wohlklang, dieser große, pralle, elegante Umgang mit Price’ Vokabular, dem Erzählfluss des ersten, dem Choral im zweiten, dem reizend angejazzten „Juba Dance“ im dritten Satz und dem Spektakel-Schwung im Finale. Bonus-Track für den Applaus war, kaum überraschend, Price’ „Adoration“, den Philadelphia-Streichern auf den Luxus-Klang maßgeschneidert.

Alben: „Secret Love Letters” Szymanowski, Franck, Chausson, Debussy. Batiashvili, Philadelphia O., Nézet-Séguin (DG, CD ca. 18 Euro). „Beethoven. The Symphonies”. Chamber O. of Europe, Nézet-Séguin (DG, 5 CDs, ca. 37 Euro). Price „Symphonies Nos. 1 & 3“ Philadelphia O., Nézet-Séguin (DG, CD ca. 15 Euro).