Hamburg. Ein Ü40-Ausflug in die goldenen Zeiten des Diskursrock: Das Stadtparkkonzert geriet zum Freitagabend wie aus dem Bilderbuch.
„The Hamburg Years“ waren annonciert, und die gab’s dann auch an diesem spätsommerlich illuminierten, top-gestylten Freitagabend. Ein Freitagabend, sagen wir’s frei heraus, aus dem Bilderbuch. Es war der matte Glanz der sich ins Wochenende verabschiedenden Sonne, der sich eben noch auf die Gesichter der Konzertgängerinnen und -gänger gelegt hatte. Und dann war es ein Liederkatalog der Jahre 1993 bis 2003, der kräftig leuchtete. Tocotronic besuchte die Stadt, in der die Band einst gegründet wurde – und eine Zeit, die lange schon vorbei ist, aber nie ganz vergehen wird. Weil Nostalgie im Spiel ist, wenn die Hits von einst Erinnerungen an junge Nächte und bittersüße, unschuldige Momente befeuern.
Tocotronic Hamburg: Zum Auftakt das Stück, das sonst Konzerte beschließt
„Wir spielen ein Programm aller Lieder, die wir in Hamburg geschrieben haben. Und das auch noch in chronologischer Reihenfolge!“, rief Dirk von Lowtzow den Leuten gleich zu Anfang zu. Und dann also folgten die Gitarrenschrubblieder der frühen Jahre dieser großartigen Band, mit fröhlich mitgegrölten Stücken. „Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse/Fahrradfahrer dieser Stadt/Ich bin alleine und ich weiß es/Und ich find’ es sogar cool/Und ihr demonstriert Verbrüderung/Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse/Backgammon-Spieler dieser Stadt“ – es musste das Stück „Freiburg“ sein, das das Konzert im Stadtpark eröffnete, der erste Track des Debütalbums „ „Digital ist besser“.
Wohlgemerkt das Stück, das sonst die Konzerte von Tocotronic beschließt. Es war ein Spezialprogramm, das die einst in Hamburg gegründete Band spielte.
Mittelalte Menschen auf und vor der Bühne sangen entrückt
4000 Menschen begrüßten die alten Gassenhauer der Lokalheroen euphorisch, was auch etwas über das Alter des Publikums aussagte. Es war eine Ü40-Party, mit Tendenz in Richtung 50. Etwa bei „Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“ schrien biografisch Arrivierte inbrünstig Adoleszenzzeilen in den Abendhimmel.
Die Disziplin „Sangeskraft im Publikum“ wurde voll ausgereizt, und es war das Wunder namens Popzeitmaschine, das sich irgendwie für alle Beteiligten, das sich in Winterhude materialisierte. Heißt: Mittelalte Menschen auf und vor der Bühne sangen entrückt Lieder aus ganz alten Zeiten. Hey, „Nach Bahrenfeld im Bus“, „Michael Ende, du hast mein Leben zerstört“? Das waren meine Teenagertage! Verrückt. Da gab‘s noch gar kein Internet.
Tocotronic bewies: Zeitlosigkeit im Pop ist keine ungültige Kategorie
Die Band bewies, dass Zeitlosigkeit im Pop keine ungültige Kategorie ist, im Gegenteil. Und deshalb vergaß man für den Augenblick, dass die Anfangszwanziger von einst nun in ihren Fünfzigern sind. Die Band spielte als ganze herrlich rückwärtsgewandt und energisch auf. Das galt für Dirk von Lowtzow, den Schrammeldandy der Republik, für Arne Zank, Jan Müller und Rick McPhail, seine fantastische Crew vom Raumschiff Diskursrock.
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Es hob bei der Heimkehr der schon lange zu drei Vierteln im Berlin beheimateten Band mit der Schubenergie eines retro-bereiten Publikums ab – der Stadtpark war ausverkauft, die Hamburg-Rückbesinnung Tocotronics triumphal.
Die Hamburger Schule, so hieß das doch in den Neunzigerjahren, jener so fernen Epoche, war ganz bei sich, als, tja, sagen wir halt mal: Legenden ihre Evergreens („Digital ist besser“, „Let There Be Rock“) mit nicht versiegender gitarristischer Urgewalt spielten.
"Was soll ich auf dem Dockville, wenn Tocotronic im Stadtpark spielen?"
Es gab zur selben Zeit ja noch eine Konkurrenzveranstaltung in der Musikmetropole, ein Indie-Festival in Wilhelmsburg in ebenso einmaliger Umgebung (aber Hafenkulisse statt Parkidyll) und guter Musik. Aber wie sagte einer der Oldies im Publikum im Stadtpark so schön während des ersten Stückes schon, einer, der seine Vorfreude mit Pils gepimpt hatte: „Was soll ich auf dem Dockville, wenn Tocotronic im Stadtpark spielen?“
Sie spielten nicht, sie rissen den Stadtpark ab. Na ja, nicht ganz; aber im übertragenen Sinn. Bleiben wir bildlich: Die Freilichtbühne bebte bei den Hamburger Hymnen. Der Band nahm man ihre eigene Emporgehobenheit in Sphären der Livemusik-Trance (Lowtzow: „Ihr macht uns so, so glücklich, wisst Ihr das? Ihr seht so toll aus“) unbedingt ab. Zuletzt musste auch Tocotronic wegen Corona Stubenhockerei betreiben, eigentlich hätte das Konzert schon viel früher stattfinden sollen. Die Verspätungen machen Konzerterlebnisse dieser Tage zu vorhersehbaren Zusammenkünften gegenwartsdankbarer Menschen. Es ist so viel besser, wenn Lieder live gespielt werden können.
Tocotronic Hamburg: Sentimentale Heimsuchungen und heute Freshness
Es war insgesamt alles da, was einen guten Konzertabend mit sentimentalen Heimsuchungen und heutiger Freshness ausmacht. Denn alt und ranzig sind die Stücke von früher nicht geworden. Der Zugabenteil war dennoch willkommen: „This Boy is Tocotronic“, „Hi Freaks“ (in einer reinen Gitarrenversion) und Artverwandtes aus den Nach-Hamburg-Jahren erinnerte daran, dass die Band musikalisch nicht uninteressanter wurde nach ihrer Hamburg-Epoche.
Das im Januar erschienene, sehr gute und leider, mit seinem kämpferischen Slogan, geradezu prophetische aktuelle Album „Nie wieder Krieg“ wird am 30. November beim Konzert auf Kampnagel im Mittelpunkt stehen. Weil das schon ausverkauft ist, gibt es den Trost eines weiteren Stadtparktermins – dort ist Tocotronic für den 19. August 2023 erneut gebucht.