Hamburg. Ein Abend beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel verspricht ein ausgesprochen diverses Programm.
Seit zehn Jahren entwickelt der kanadische Musiker und Puppentheatermacher Josh „Socalled“ Dolgin beim Internationalen Sommerfestival seine Puppenmusicalserie „The Season“. Es geht um Waldtiere, die sich mit gesellschaftlichen Problemfeldern wie Umweltzerstörung und kapitalistischer Ausbeutung auseinandersetzen müssen – und in der aktuellen, finalen Folge „Time“ auch mit Identitätspolitik. Weil der Bär nämlich mit Gedächtnisverlust im Krankenhaus gelandet ist und nur wieder rauskommt, wenn er sich erinnert, wo er herkommt.
Harter Stoff also für eine Fabel, die auf den ersten Blick naiv erscheint. Das ist allerdings die Qualität von „The Season“: dass hier große Themen verhandelt werden, und am Ende ist es doch nur Puppenspiel mit mitreißenden Songs (die unter anderem vom auf Kampnagel immer wieder präsenten Kaiser Quartett gespielt werden). Dazu agieren Klappmaulpuppen im Muppets-Stil, und es gibt tänzerische Exkurse von Hanako Hoshimi-Caines.
Kampnagel Hamburg: Cowboy schreitet über die Bühne
Puppenspielästhetisch ist das nicht vergleichbar mit Kid Koalas „The Storyville Mosquito“, der zweiten Figurentheaterarbeit beim Sommerfestival, muss es aber auch gar nicht sein: Es geht Socalled weniger um Innovation als darum, „The Season“ zu einem würdigen Abschluss zu bringen und dabei die Ästhetiken perfekt ineinandergreifen zu lassen. Und wie perfekt das funktioniert, trotz der Tatsache, dass der Regisseur, Musiker und Tausendsassa kurz vor der Premiere mit einer Corona-Infektion in Quarantäne musste und die Proben nur per Video leiten konnte, davor kann man den Hut ziehen.
In einer anderen Kampnagel-Halle geht derweil die Sonne auf. In zartem Rosa schält sie sich aus einem projizierten dunklen Himmel heraus. Dazu erklingen flirrende Klavierklänge wie der Vorspann eines Western-Films. Die Silhouette eines Cowboys zeichnet sich ab, der langsam über die Bühne nach vorne schreitet.
Mitglieder der Compagnie in Retro-Kostüme gehüllt
In der Deutschlandpremiere von „How A Falling Star Lit Up The Purple Sky” nimmt sich der in Basel lebende US-Choreograph Jeremy Nedd beim Sommerfestival gemeinsam mit der südafrikanischen Compagnie Impilo Mapantsula die guten alten Westernmythen vor. Dem Eröffnungsgang folgen weitere. In elegante Retro-Kostüme gehüllt, bewegen sich die Mitglieder der Compagnie wie auf einem Laufsteg durch eine imaginäre Wüste. Auf ein unsichtbares Zeichen hin legen sie auf einmal einen furiosen Tanz mit wilder Fußarbeit hin.
Dann wieder zelebrieren sie feine Gesten und fluide Bewegungen in kunstvoller Langsamkeit. Den Score dazu bilden Melodien wie „Walk On By“ und „Over The Rainbow“. Die Tanzenden sind Geschichtenerzähler, die ganz dem Pantsula ergeben sind, jener in der afrikanischen Subkultur wurzelnden Tanzkunst, die sich aus Tanz, Jazzmusik und Kleidung der 1940er- und 1950er-Jahre speist und für die Menschen in den Townships Südafrikas Identität stiftet.
Kampnagel Hamburg: Gruppen-Battles und Duette
Es gibt viel simultan zu bestaunen. Ein Gitarrist erhebt sich ganz in Schwarz aus seinem Grab. Es gibt schier hinwegfegende Gruppen-Battles, begleitet von Stimmen und Pfeifen, dann wieder tolle Duette, etwa, wenn sich die beiden Tänzerinnen bei gefühlten 38 Grad im Saal in dicke bunte Decken hüllen, als wollten sie der nachtkalten Wüste trotzen, um dann doch erneut einen wilden Pantsula hinzulegen.
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Es geht um den Boden, das Land, die Heimat. Die eigene Identität und jene der anderen. Selten hat man das in so schlüssigen, aber auch humorvollen und sinnlichen Bildern gesehen.
„Time – The 4th Season“ 20.8., 18 und 21 Uhr, 21.8., 16 Uhr „How A Falling Star Lit Up The Purple Sky”, 20.8., 19 Uhr; Karten für alle Veranstaltungen unter kampnagel.de