Hamburg. Zwei Musiker haben den Roman “Vorglühen“ geschrieben. Dessen Held ist auch Musiker – und muss umziehen. Ein Buch, das Spaß macht.
Der Roman fängt in Wedel an, am Willkomm-Höft. Es ist das Jahr 2000, Albert bedient die Schiffbegrüßungsanlage. Das tun sonst eher alkoholisierte Exkapitäne. Und nur ausnahmsweise junge Männer wie Albert, die eben noch auf eine Rockstarkarriere gehofft haben. Der Prolog ist die Pointe des Subkultur-, Musiker- und Bildungsromans „Vorglühen“.
Aber jede Wette: Wer in diesem charmanten Buch, das vor allem anderen auch schlicht ein Hamburgroman ist, über 370 komische, verranzte, wilde, junge, von Bierdosen umstellte Seiten hinweg mit Albert und seinen Freunden unterwegs war auf dem Highway in die Rockseligkeit, der hat den Wedeler Anfang beziehungsweise das Wedeler Ende längst vergessen.
Buchtipp: „Vorglühen“ spielt im Jahr 1994
Denn 1994, dem Jahr, in dem „Vorglühen“ eigentlich spielt, erscheint alles möglich. Das kann in einer Stadt, in der es eine Straße mit dem Namen „Große Freiheit“ gibt, gar nicht anders sein.
Der Highway zum Glück ist die Reeperbahn, oder besser: die Talstraße, die als Abzweig genauso zu St. Pauli gehört, jenem mythischen Ort des Amüsements und des Ausschweifens, des Selbstverbrauchs und des Anti-Bürgerlichen. Albert stammt aus dem Rheinland, einer verschnarchten Welt, die er hinter sich zu lassen gedenkt, als er nach Hamburg kommt.
Jan Müller ist Bassist bei Tocotronic
Mit einem Germanistikstudium und einer Zweizimmerwohnung in Barmbek könnte das klappen. Muss aber nicht. Besser is’, in eine WG („Das Zimmer sah vollkommen beschissen aus, was Albert gut gefiel“) auf dem Kiez zu ziehen, in nämliche Talstraße, wo das Glück in jedem Kiosk in Form einer Knolle Astra wartet. Wo man mit Leuten zu tun hat, die geschmacklich im selben Team spielen und verrückt nach Musik sind.
Was die Überleitung ist zum Autorenduo, das „Vorglühen“ geschrieben und, es hat ganz den Anschein, dabei stilistisch ziemlich „easy“ zueinandergefunden hat, um eine im Buch häufiger gebrauchte 90er-Jahre-Vokabel lässig zu gebrauchen. Könnte eine einfache Übung gewesen sein: Die Musiker Jan Müller, der mit Tocotronic berühmt wurde, und Rasmus Engler, der mit Herrenmagazin nicht berühmt wurde, haben sich nämlich clevererweise einfach an dem literarischen Schaffen des auf Charaktere mit Drall und Eigenheiten sowie lustig verblasene Dialoge spezialisierten Musikerkollegen Sven Regener („Herr Lehmann“) orientiert.
"Vorglühen" ist kein Schlüsselroman
Ist ja auch nicht strafbar. Und war es nicht an der Zeit, Regeners berlinischem Künstlermilieu sein, ja sicher doch, noch wesentlich spannenderes Hamburger Pendant entgegenzustellen?
Ein unterhaltsames Buch, das künftig nun als leichtfüßige thematische Verwandtschaft neben Joachim Bessings klugem, 2021 erschienenen Epochenbild „Hamburg. Sex City“ stehen wird. Bei Bessing ging es ernster zu, seriöser, stilistisch ambitionierter. Und es tauchten Klarnamen auf. Das ist bei „Vorglühen“ keineswegs so. Überhaupt ist der Roman schwerlich als Schlüsselroman zu dechiffrieren.
Albert feiert Nächte auf St. Pauli durch
Er ist als torkelnder und jugendeuphorischer Heldengesang auf den jungen Albert angelegt, der sich von allen Erwartungen aus dem Elternhaus nonchalant freimacht – das klassische Emanzipationsding eben –, der sich kompliziert in eine Comicverkäuferin verliebt und Claus, Gernot und Susesch kennenlernt, seine Bandkollegen. Der die Nächte auf St. Pauli durchfeiert, zu Undergroundkonzerten geht, aber nie mehr in die Uni.
Eine klare generationsbezogene Lebensgefühlfeier; mit allen Grundsätzlichkeiten wie Konflikten in der WG und den Beschwerlichkeiten der Selbstfindung. Jedoch nur hier, in diesem die Kraft der Musik als Identitätsmarker beschwörenden Plot, hilft es unter Umständen, vorübergehend bei einer alten Dame einzuziehen.
Hamburgroman sendet eindeutige Signale aus
Diese Talstraßenbekanntschaft, Frau Baszak, hat Platten von Freddy Quinn. Und da guckt sich Nachwuchstexter Albert dann ein paar Sachen ab und wird direkt der wichtigste Mann in seiner neuen Band. Die hieß mal „Rundstück Warm“ und heißt irgendwann dann „Brand“, probt im Bunker, dreht einen Videoclip im Sachsenwald. Spielt auf linksbeseelten Stadtteilfesten in Eimsbüttel, auf denen außerdem Liedermacher Botzenhardt („Das Kapital geht mir aufn Senkel“) auftritt.
Dieses Buch sendet eindeutige Signale aus. Dass es früher, in unserer Jugend Maienblüte, derbe war, auf dem Kiez Blödsinn zu machen. Und auch, dass man völlig ungeniert Hamburg romantisieren kann: Ihren Albert lassen Müller/Engler permanent durch die Stadt flanieren. Nicht immer hat er dabei Bier am Mann.
Buchtipp: Buch erinnert an das Jungsein
Und dass man wenig subtilen Lachbefehlen durch hirnrissige Bandnamen („Die Wasserleichen“, „Arschgeiger Virtuos“) unverzüglich nachkommen darf. Der Weg zur Band ist steinig, dennoch macht fast alles Spaß. Man hat ja nichts zu verlieren.
- Nach Gedichtbänden: Ein neues Jugendbuch von Nils Mohl
- Norwegisches Debüt: Ein Thriller über den Affen im Mann
- „Das Virus“: Auf der Suche nach dem Ursprung von Corona
An diese schöne, unschuldige Qualität des Jungseins erinnert dieses Buch, in dem nach einer Fahrt mit der Linie 62 gewaltige Sätze wie diese fallen: „Hamburg ist einfach nur St. Pauli, Schanze, Altona, der Rest ist Dorf, so wie hier in Finkenwerder. Nur mit ohne Charme! Ein Typ wie du darf nicht in Barmbek wohnen. Du bringst dein Seelenheil in Gefahr! Barmbek ist eine passive Aggression. Es gibt einfach keinen Grund, nicht auf St. Pauli zu wohnen, wenn man schon unbedingt in Hamburg wohnen muss.“