Hamburg. Die Bandbreite beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel ist groß wie eh und je. Aber nicht alles gelingt.

Internationales Sommerfestival, das heißt: lange Abende, ein Füllhorn an Veranstaltungen, manchmal auch die Qual der Wahl. Die fällt am Donnerstagabend unter anderem auf das australische Back To Back Theatre, das eines der anerkanntesten inklusiven Theater der Welt ist. Auf Kampnagel gastiert es mit der Performance „The Shadow Whose Prey The Hunter Becomes“, einem faszinierenden, klugen Spiel, das sich um die Frage rankt: Wenn Künstliche Intelligenz die Welt übernehmen würde, hätten dann nicht alle Menschen eine geistige Behinderung?

Der Abend beginnt recht harmlos auf spartanischer Bühne. Nur ein wenig Klaviermusik rahmt das Geschehen ein. Zwei Ensemblemitglieder, die sich mit Sarah und Scott ansprechen, bereiten eine Art Zukunftskonferenz vor. Dabei reihen sie ein paar Stühle auf und ziehen ein gelbes Band am Boden – eine Trennlinie zum Publikum. Sarah spricht gedehnt, Scott wird auch mal aufbrausend. Sie reden über kleine und größere Hindernisse, die Frustration darüber, akustisch oft nicht verstanden zu werden, verbotene Berührungen in der Öffentlichkeit. Vieles ist eindringlich direkt.

Kampnagel: Intelligent, unerbittlich – aber auch humorvoll

Beider Texte werden simultan auf ein Laufband übertragen. Ein dritter, Simon, gesellt sich als Moderator hinzu. Einmal erklimmt Scott eine Leiter und hebt zu einer Wut-Rede an. Darüber, was die angeblich nicht „Normalen“ ertragen müssten: Missbrauch, Abwertung, Ausgrenzung, miese Jobs, Medikamente, Experimente, Euthanasie. Die Liste ist hart und lang. „Wir sind Bürger zweiter Klasse und werden wie Tiere trainiert“, sagt Sarah. Theaterleiter und Regisseur Bruce Gladwin, der den Abend gemeinsam mit den Akteuren kreiert hat, bleibt aber nicht bei einer reinen Anklage, er dreht das Gedankenspiel eine Umdrehung weiter.

Überträgt das Laufband zunächst nur das gesprochene Wort wandelt es sich auf einmal zu einem Dialogpartner. Von da an bricht die Theaterperformance mit dem Narrativ der Einen und der Anderen, getrennt von einem schmalen Papier auf dem Boden. Sie unterläuft Erwartungshaltungen der Zuschauer, ihre Wahrnehmung eines inklusiven Wohlfühl-Theaters und verweist auf Verschiebungen, wenn die Künstliche Intelligenz unser aller Selbstverständnis in Frage stellt. „The Shadow Whose Prey The Hunter Becomes“ ist intelligent, unerbittlich, dabei auch unterhaltsam und humorvoll. Nur folgerichtig, dass das Back To Back Theatre in diesem Herbst mit dem International Ibsen Award den weltweit bedeutendsten Theaterpreis erhält.

Little Annie lässt Lover Suff und Extase Revue passieren

Die Latte liegt damit hoch. Fast zu hoch, um hinterher noch Little Annie und ihren „52 Jokers“ zu folgen. Darin tritt die Undergroundlegende, bürgerlich Ann Bandez, eingerichtet von Beth B., im schwarzen Kleid auf, lässt Lover, Suff, Ekstase und Enttäuschungen ihres Lebens in Texten und Liedern Revue passieren.

Ein wildes Leben mag das gewesen sein, und doch ist der Abend seltsam oberflächlich, wirkt fast anachronistisch in seinem düster-romantisch verklärten Blick auf das Begehren, von dem eigentlich nur Schmerz bleibt. Den verkörpert an Little Annies Seite die Burlesque-Performerin Evilyn Frantic. Mal als ihr Alter Ego, mal als sie selbst. Am konsistentesten wirkt da noch die sehr experimentelle Live-Noise-Musik von Paul Wallfisch und Jim Coleman.

Kid Koala führt Figurentheater als Live-Film auf

Ein ganz anderes Kaliber ist Kid Koalas „The Storyville Mosquito“: Das titelgebende Insekt reist aus der Provinz in die große Stadt, mit dem Ziel, Karriere als Klarinettist zu machen. Klappt nicht ganz, beim Vorspiel im Jazzclub hat eine Spinne als Vibraphonistin die Nase vorn, was ein bisschen unfair ist, weil: Spinnen haben mit acht Extremitäten einen Vorteil beim jazzigen Virtuosentum. Aber dafür gewinnt er das Herz einer hübschen Gottesanbeterin (die als Betreiberin einer Nudelküche ebenfalls beruflich nicht gerade auf der Erfolgswelle schwimmt).

Kid Koala erzählt eine romantische Underdog-Geschichte nach dem Modell alter Hollywood-Filme, mit hoffnungslos liebenden Losern, gnadenlosen Fieslingen und einem einschmeichelnden Jazz-Soundtrack. Nein, nicht nur nach Hollywood-Modell, „The Storyville Mosquito“ ist tatsächlich ein Film. Ein Live-Film. Eric San, wie Kid Koala bürgerlich heißt, hat hier eine ganz eigene, hochkomplexe Form des Figurentheaters entwickelt: Fünf Puppenspieler bedienen Figuren, diese werden live mit unzähligen Kameras gefilmt, und San untermalt den so entstehenden Film gemeinsam mit einem Streichertrio.

Das Ergebnis begeistert durch liebevolle Detailtreue, aber auch durch die Perfektion, mit der die einzelnen Arbeiten ineinander greifen, Filmschnitt hier, Puppenspiel dort, den Soundtrack nicht zu vergessen. Ein bezaubernder Abend, der mit Herzblut (und viel Spaß) wahnsinnigen Aufwand betreibt. Und wofür? Für ein Nichts. Denn: Auf der erzählerischen Ebene ist der Film unspektakulär, und wenn die Musiker zur langen Instrumentalpassage ansetzen, weil wieder eine Puppenstubenbühne für eine Szene hergerichtet werden muss, dann schaut man schonmal auf die Uhr. Aber weil das gesamte Arrangement so reizend ist, stört die Konvention der Erzählung kaum. Großer Jubel.

Kampnagel: Auch abseits des Sommerfestivals gibt es gute Tipps

Und noch ein Tipp: Wer sich über die Errungenschaften Schwarzer Unterhaltungskunst hierzulande informieren möchte, der kann das nunmehr eröffnete Deutsche Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music im ehemaligen Karstadt-Sport-Gebäude (Mönckebergstraße 2-4) besuchen. Hier sind Dokumente und Devotionalien zahlreicher nationaler Showgrößen – darunter viele Hamburger – ausgestellt. Zum Beispiel das erste Eimsbush-Tape, das der Musiker und Produzent Samy Deluxe seinerzeit auf der Straße verteilt hat. Auch die Trompete des Jazz-Musikers Billy Mo ist zu sehen.

Internationales Sommerfestival bis 28.8., Kampnagel, Karten und Termininfos unter www.kampnagel.de