Der Roman von Delia Owens stand wochenlang auf den Bestsellerlisten. Im Film ist die Darstellung des “wilden Mädchens“ aber zu mild.

Sie nennen sie das „Marschmädchen“. Sie nennen sie eine Verrückte. Oder gar eine Hexe. Und sie trauen ihr alles zu. Als ein Toter im Sumpf gefunden wird, da steht für die Einheimischen fest, dass dieses Mädchen die Täterin sein muss. Immerhin ist es doch die Einzige, die da draußen in der unwegsamen Natur lebt. Sie soll ja auch was gehabt haben mit dem toten Jungen. Und Fasern ihrer Mütze finden sich an der Leiche. Eigentlich ist das Urteil über das Mädchen längst gefällt, bevor es auch nur verhaftet wird, geschweige denn bevor der Prozess gegen es beginnt.

Der Roman „Der Gesang der Flusskrebse“ der US-Amerikanerin Delia Owens war vor drei Jahren ein überwältigender Erfolg. 4,5 Millionen Exemplare wurden allein in den USA verkauft. Aber auch international fand das Buch großen Anklang, stand etwa in Deutschland wochenlang auf den Bestsellerlisten. Was liegt da näher als eine Verfilmung? Wo es doch so vieles auf einmal ist; Natur- und Survival-Epos, eine Romanze ist auch dabei, zugleich ist es Thriller und Gerichtsdrama.

Und auf großer Kinoleinwand muss man sich die plastisch beschriebenen und beschworenen Landschaftsbilder nun nicht mehr imaginieren – man bekommt die berühmten, aber entlegenen Great Dismal Swamp, also die Marschgebiete von North Carolina, direkt vor Augen geführt. Und doch: Viele, die das Buch gelesen haben, gestehen, dass sie Angst vor dem Film haben. Gerade weil sie das Buch so sehr mochten. Und nicht wissen, ob der Film das wirklich einlösen kann.

Außenseiterin wird verdächtigt, einen Mord begangen zu haben

Die Geschichte ist damit ja weithin bekannt und muss nicht mehr groß erzählt werden. Es geht um das „wilde Mädchen“ Kya Clark (die britische Newcomerin Daisy Edgar-Jones), das ihren Lover, den beliebten Fußballer Chase Andrews (Harris Dickinson), von einer Aussichtsplattform im Sumpf gestoßen haben soll. Die Beweislage ist dünn. Aber die Voreingenommenheit groß. Weil Kya ja schon immer eine Außenseiterin war, die jenseits der Gesellschaft gelebt hat. Und dafür muss es ja einen Grund geben!

Ein Anwalt (David Strathairn) versucht, einen Vergleich auszuhandeln. Doch das lehnt Kya ab. Auch wenn ihr die Todesstrafe droht. Dann lieber sterben als in Unfreiheit leben. Denn das war ihr Leben im Sumpf, fernab von den unverständigen Städtern: frei. Und dieses Leben wird nun in Rückblenden aufgerollt.

Das verwunschen-entrückte Leben mitten in Mutter Natur. Aber mit einem Vater, der so gewalttätig ist, dass die Mutter und nach und nach alle Geschwister davonlaufen. Bis Kya mit dem Vater allein ist. Der sie dann auch noch im Stich lässt.

Da ist das Mädchen noch klein. Aber keiner in der Stadt kümmert sich um das verwahrloste Kind. Man lacht es nur aus, als es einmal schmutzig und barfuß in die Schule kommt. Klar, dass es nie zurückkehrt. Das bisschen, was Kya zum Leben braucht, verdient sie sich mit Muschelsammeln. Erst als sie ein Teenager ist und den scheuen Tate Walker (Taylor John Smith) kennenlernt, bringt der ihr Lesen und Schreiben bei. Nun kann sie sich schlau machen über ihre Umwelt, die sie kennt wie keiner sonst. Und sie weiß die Flora und Fauna in den Sümpfen so sinnlich zu zeichnen, dass Tate ihr rät, sie müsse das einem Verlag anbieten.

Im Roman wird das, wie gesagt, sehr plastisch geschildert. Weil die Autorin Delia Owens auch Zoologin ist. Weil sie die Welt mit Staunen betrachtet. Und auch so beschreibt. Das ist denn auch der große Pluspunkt des Films: Weil Kamerafrau Polly Morgan das in spektakuläre, überwältigende Natur- und Landschaftsbilder überträgt und die Zuschauer so mitstaunen lässt.

Zuschauer wissen hier immer ganz genau, was sie zu fühlen haben

Anders sieht es allerdings bei der Darstellung von Kya aus. Als kleines Mädchen darf sie mal verschmutzt sein. Aber als junge Frau ist sie doch immer hübsch und ­adrett, hat die Haare schön und die Kleidung reinlich. Soll das ein wildes Mädchen sein? Sähe man nicht doch etwas verwahrloster aus? Und wäre das dann nicht auch nachvollziehbarer, wenn andere sich vor ihr ein wenig gruseln?

Stattdessen taucht Regisseurin Olivia Newman alles in schönste Bilder und mildes Licht. Da würde wohl jeder sofort zum Aussteiger! Ansonsten neigt sie gern zur Überdeutlichkeit. Tate ist nicht nur der „Good Guy“ und Chase nicht einfach der „Bad Guy“. Hier wird des Guten wie auch des Bösen immer ein wenig zu viel getan. Damit auch der letzte Zuschauer weiß, was er zu fühlen hat. Schade darum.

Reese Witherspoon hatte den Film produziert

Dabei sollte der Film doch so anders sein. Schauspielerin Reese Witherspoon hatte sich in das Buch verliebt und den Film produziert. Fast nur Frauen standen hinter der Kamera. Und Drehbuchautorin Lucy Alibar, die den Roman adaptierte, hat mit dem großartigen „Beasts Of The Southern Wild“ vor zehn Jahren schon mal eine ähnlich wilde Geschichte aus den Sümpfen von Louisiana erzählt.

Aber trotz allem es wird am Ende nur eine große Hollywoodschnulze, mit mehr Kitsch als Sumpf und vorhersehbarem Ausgang. Wer den „Gesang der Flusskrebse“ nicht gelesen hat, wird kaum verstehen, warum das Buch so ein Bestseller war. Wer es gelesen hat, sollte es vielleicht lieber noch ein zweites Mal lesen – statt ins Kino zu gehen.

„Der Gesang der Flusskrebse“ 126 Min., ab 12 J., im Abaton, in der Astor FilmLounge, im Cinemaxx Dammtor/Harburg/Wandsbek, Elbe, Holi, Koralle, Passage, Savoy, Studio, UCI Mundsburg/Othmarschen/Wandsbek, Zeise