Hamburg. In „Alcarràs – Die letzte Ernte“ versucht eine spanische Großfamilie verzweifelt, ihre Pfirsichplantage zu retten.

Es ist harte Arbeit. Und bei der Ernte muss die ganze Familie ran. Aber diese Pfirsichplantage bei Alcarràs, im Nordosten von Spanien, ist seit Generationen ein Familienbetrieb. Der wirft genug zum Leben ab. Und ist es nicht auch ein kleines Paradies, in dem sie da leben? Mitten im satten Grün, mit Obstbäumen, so weit das Auge reicht, und den malerischen Bergen im Hintergrund. Wo man eins ist mit der Natur. Und drei Generationen zusammenstehen. Unsere kleine Farm – ein Idyll.

Eines Tages aber ist es vorbei damit. Kreischend laufen die Kinder heim, weil das alte Autowrack, in dem sie immer spielen, von einem Bagger weggekarrt wird. Zu Hause sind auch die Erwachsenen schon in heller Aufregung, suchen zwischen vielen Papieren nach einem Vertrag. Doch es findet sich keiner. Einst hat der Urgroßvater den Großgrundbesitzer im Spanischen Bürgerkrieg bei sich versteckt. Und vor der sicheren Ermordung gerettet. Seither darf die Familie Solé dieses Land bestellen. Ein Ehrenvertrag, durch Handschlag besiegelt. Nun aber will der Nachfahre des Besitzers nichts mehr davon wissen. Auf dem Grund und Boden soll ein riesiger Solarpark entstehen. Und dem muss die Plantage weichen. Carla Simòns Film „Alcarràs – Die letzte Ernte“ hat auf der jüngsten Berlinale den Goldenen Bären gewonnen. Eine durchaus überraschende Wahl. Denn der Film wurde mit Laiendarstellern gedreht. Er ist, trotz des Themas, kein vorrangig politischer, sondern ein zart beobachtender, fast dokumentarischer Film. Und er macht es seinem Publikum nicht leicht.

Dieser Film ist keine flammende sozialpolitische Anklage

Natürlich ist es zu bedauern, wenn eine solche Plantage bedroht ist. Zumal es hier eben um keinen Großkonzern geht, der das verschmerzen könnte, sondern eine einfache Familie, deren Existenz bedroht ist. Und deren Produkte auch garantiert bio und öko sind. Aber ihre Plantage muss eben keinem luxuriösen Sterne-Hotel oder einem Golfplatz für die Reichen weichen. Sondern für einen fortschrittlichen Solarpark. Und wer würde sich dagegen aussprechen? Dass man erneuerbare Energien nicht nur fördern, sondern radikal ausweiten muss, das führt ja gerade Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, der den ganzen Kontinent in Energieprobleme stürzt, schmerzlich vor Augen.

„Alcarràs“ ist denn auch keine flammende sozialpolitische Anklage. Sondern ein kleiner, feiner Film, der gleich zwei Mikrokosmen in den Fokus rückt, die in diesen Zeiten zu verschwinden drohen: hier ein ländlicher Kleinbetrieb, da eine Großfamilie, wie man sie kaum noch kennt. Die Regisseurin weiß dabei sehr genau, wovon sie erzählt. Denn ihre eigene Familie bewirtschaftet eine solche Obstplantage in Spanien. Und Carla Simòn hat für ihren Film lauter Laien aus der Region gesucht, die in ihrem Spiel ganz authentisch wirken und von ihr so feinfühlig angeleitet werden, dass sie zu einem überzeugenden Ensemble, zu einer Einheit zusammenwachsen, dass man wirklich glaubt, einer echten Familie zuzusehen.

Regisseurin Carla Simon mit dem Goldenen Bären bei der Berlinale
Regisseurin Carla Simon mit dem Goldenen Bären bei der Berlinale © dpa | Monika Skolimowska

"Alcarràs – Die letzte Ernte": Das Innengefüge der Großfamilie

Dabei werden nie falsche Hoffnungen gemacht, was die Zukunft dieser Familie betrifft. „Die letzte Ernte“ heißt es schonungslos im Untertitel. Die Solés gehen weiter ihrem Alltag nach. Dass der Großvater noch junge Bäume zieht, ist wie ein letzter, vergeblicher Trotz. Denn jeder Gang durch die Baumreihen ist auch ein kleiner, wehmütiger Abschied.

Ganz intim ist der Film und die Kamera der behutsamen Bildgestalterin Daniela Cajias auf das Innengefüge dieser Großfamilie gerichtet. Die mit ganz normalen Konflikten zu kämpfen hat wie jede andere Familie. Da ist Vater Quimet (Jordi Pujol Dolcet), der weiter rackert, auch wenn ihn der Rücken plagt. Da ist sein Sohn Rogelio (Josep Abad), der es seinem Vater nie recht machen kann, obwohl er dessen Arbeit fortführen will. Während seine pubertierende Schwester Mariona (Xènia Roset) lieber zu Internet-Videos tanzt, statt mit anzupacken. Mutter Dolors (Anna Otin) hält die Familie patent zusammen. Verteilt aber auch mal Ohrfeigen, für die Kinder, aber auch für den Gatten. Und dann ist da noch das beredte Schweigen und traurige Gesicht des Großvaters Roger (Albert Bosch), der es nicht fassen kann, dass sein Lebenswerk ein baldiges Ende findet.

Dabei geht der Riss auch mitten durch die Familie. Wenn ausgerechnet Quimets Bruder und dessen Frau mit dem Landbesitzer paktieren und helfen, den Solarpark zu bauen, wird erst gestritten und dann miteinander gebrochen. Die jüngste Tochter darf plötzlich nicht mehr mit ihren Cousins spielen. Obwohl die Kleinen nichts davon verstehen.

Nebenbei wird auch von anderen, größeren Problemen erzählt. Von der Preispolitik der Großabnehmer, die die Arbeit immer unrentabler macht. Weshalb Quimet und Rogelio auch an einer Demon­stration vor dem Rathaus teilnehmen. Auch wenn der Arbeitskampf für sie gar keinen Sinn mehr macht.

Ein Pfirsich schmeckt nach diesem Film plötzlich ganz anders. Köstlicher, auch kostbarer. Vielleicht wird man einen solchen Verzehr nicht mehr ganz so selbstverständlich empfinden. Den Solés hilft das nicht mehr. Da macht der Film keine Illusion. Am Ende stehen die Bagger vorm Haus und reißen die prächtigen Bäume nieder. Ein grässlicher letzter Anblick.

„Alcarràs – Die letzte Ernte“ 120 Minuten, ab 6 Jahren, läuft im 3001, Abaton, Holi und Zeise