Hamburg. Postpartale Depression, Unfruchtbarkeit, Sorgerechtsstreit: Ingebjørg Berg Holm schreibt über einen Kerl, der keine Moral kennt.
Gleich am Anfang gibt es eine Leiche. Die Schneeschicht um diese Leiche wächst, ehe sie dann wieder freigelegt wird: „Nimmt der Eisbär die Fährte des Kadavers auf, wird der Körper in der Landschaft verteilt, teils fortgezerrt und versteckt, teils aufgelöst in Magensäure und als Exkrement wieder ausgeschieden.“
Wenn der Eisbär den Leichnam nicht entdeckt und auch sonst niemand, die Insel Spitzbergen im Nordatlantik ist schließlich kein Hotspot der menschlichen Spezies, wird sich der Körper langsam auflösen, die Knochen verwittern; aber der Nylonanzug wird bleiben: „Eine fossile Plastikhülle in Menschenform, gekrönt von einem Glorienschein aus Pflanzen, wo der Kopf zur Erde geworden ist.“
Buchkritik: Ingebjørg Berg ist eine Entdeckung
So steht es im Prolog des erstaunlich unerbittlichen Romans „Wütende Bärin“, der dieser Tage im KJM-Verlag erschienen ist, der umtriebigen, couragierten verlegerischen Unternehmung des langgedienten Blankeneser Büchermannes Klaas Jarchow. Ausländische Autorinnen und Autoren hatte er zuletzt nicht im Programm, mit der 1980 geborenen Norwegerin Ingebjørg Berg Holm ändert sich das nun. Sie ist, das lässt sich sagen, durchaus eine Entdeckung.
Dabei handelt „Wütende Bärin“, ihr dritter Roman, sicher am Rande auch von schmelzenden Eisbergen und dem menschlichen Zerstörungswerk am Planeten Erde – die eingangs zitierte Passage lenkt den Blick mit Nachdruck auf das für die Natur unverdauliche Nylon. Zwei der Roman-Hauptfiguren sind Klimaforscher, die in Spitzbergen ihre Forschungen durchführen. Nina und Njål waren mal ein Paar und haben ein Kind zusammen. Sie erzählen aus ihrer jeweiligen Perspektive vom Geschehen eines knappen Dreivierteljahres.
Der Roman spielt auf Spitzbergen
Es ist der Zeitraum, der dem Todesfall in der Eislandschaft Spitzbergens vorausgeht. Zwischen Nina und Njål herrscht Krieg, es geht darum, wer das Sorgerecht für die kleine Tochter bekommt. Und es geht um die Deutungshoheit über ein dramatisches Ereignis zwischen den sich zunehmend feindlich gegenüber stehenden ehemaligen Lebenspartnern. Als „literarischer Nachklapp zu #Metoo“ wird der Roman vermarktet, und das ist sicher eine Möglichkeit, die Handlung auf den Punkt zu bringen.
In „Wütende Bärin“ werden minuziös das Bemühen eines Vaters geschildert, die Mutter aus dem Leben des gemeinsamen Kindes zu verbannen; und dasjenige ebendieser Mutter, dies nicht zuzulassen. Es ist eine klaustrophobische Atmosphäre, in der sich der Kampf ums Kind abspielt. Die Erzählerin Ingebjørg Berg Holm arbeitet detailliert die Charakteristika und inneren Konflikte ihrer Hauptakteure heraus und gesellt dabei eine Dritte zu diesem Zweierbund, der vermutlich nie einer war: die Seelsorgerin Sol, Njåls Lebenspartnerin, bevor er mit Nina zusammenkam.
Anschwärzen beim Jugendamt
Auf ein Tableau des Menschlichen, in dem psychische Probleme, persönliche Krisen und gescheiterte Liebesbeziehungen dominieren, schiebt die Autorin ihren Bösewicht auf bemerkenswerte Weise. Denn dass Njål der eigentliche Mittelpunkt dieses Schurkenstücks ist, wird im Verlaufe der Handlung immer deutlicher. Er ist es, der selbst ernannte „Modern Viking“, der sich in seinen Betrachtungen seiner selbst am meisten bewusst zu sein scheint. Njål ist passiv-aggressiv, wie es in der Sprache der Psychologie heißt, vor allem aber unterfüttert sein Denken ein skrupelloses, von keiner Moral gebremstes Triebverhalten: „Es war der Affe in mir, um es darwinistisch auszudrücken.“ Die Beziehung mit Sol ging in die Brüche, weil sie kein Kind bekommen konnte, depressiv wurde. Adoptieren wollte er nicht.
Später klappte es beziehungsmäßig auch mit Nina nicht, die er zunächst beruflich förderte und dann konkurrierte. Aber immerhin pflanzte er sich mit Sols Nachfolgerin fort. Nina („Eigentlich hätte ich niemals ein Kind bekommen dürfen“) bekam nach der Geburt eine postpartale Depression. Was Njål,, der seiner Ex „Instabilität“ attestiert, in der Romangegenwart munitioniert. Nina hält sich schadlos, was das angeht: Sie schwärzt Njål, der gerne nackt neben seiner Tochter schläft, beim Jugendamt an.
Buchkritik: Roman über eine vergiftete Dreiecksbeziehung
Dennoch ist in diesem Roman über eine vergiftete Dreierbeziehung ganz eindeutig der Mann das Schwein, er sortiert Sol, die unverhofft doch noch schwanger wird, und Nina jeweils so in seine Lebensplanungen ein, wie es seinen Fortpflanzungsplänen am besten passt. Die Frauen in diesem Buch erscheinen nicht unbedingt als Opfer, aber eben doch in Notlagen, an denen der Mann nie unbeteiligt ist. Ingebjørg Berg Holm schafft es, durch den permanenten Perspektivwechsel die Pläne ihrer Figuren sowohl zu verraten als auch zu verschleiern. Sie erzählt gleichzeitig langsam und schnell.
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Bleibt die Frage, ob ein Roman, der so eindeutig Position bezieht, was die Sympathien angeht, die man Leserin und Leser unweigerlich zu verteilen hat, einwandfrei funktioniert. In diesem Fall tut er es, weil er von einer unerschrockenen Autorin als düsterer Thriller mit großem Finale angelegt ist.