Hamburg. Der Schriftsteller vermisst in seinem grandios erzählten Roman „Die Nacht unterm Schnee“ eine Liebe in der Nachkriegszeit.

Sie ist mehrfach vergewaltigt worden. Das Teenagermädchen aus Danzig, das mit seiner Familie auf dem Weg westwärts war, das Ende des Kriegs am Horizont. Aber so viel Blut unterwegs, so viel Leid, Hass, Frevel. Man muss, was Kriege angeht, immer den Glauben an die Menschheit verlieren.

Der 1953 in Schleswig geborene und in Berlin lebende Schriftsteller Ralf Rothmann hat den Glauben daran, auch Schreckliches in Worte übersetzen zu können, nicht verloren. Also schreibt er in dem dieser Tage erscheinenden, wundersam gelungenen Roman „Die Nacht unterm Schnee“ über die Heimsuchungen der jungen Elisabeth, die von russischen Soldaten missbraucht und kaputt gemacht wird.

Buchtipp: Ein Russe rettet Elisabeths Leben

Kaputt gemacht, ganz wörtlich. Im Intimbereich ist alles gerissen. Elisabeth, das ist ihr großes Glück, trifft im Transitbereich des Krieges, wo sich Flüchtende, Soldaten zweier Armeen und diejenigen, die aus ihnen desertiert sind, durch kalte Endzeitlandschaften schleppen, auf Dimitrij. Den Russen, der ihr vermutlich das Leben rettet. Er versteckt sie. Ralf Rothmann schildert das Zusammentreffen der beiden im Krieg Gestrandeten präzise und szenisch, ohne auf andere Effekte aus zu sein als denen des erzählerischen Realismus. Ein Stück Schinkenschwarte, „an dem ein paar Borsten schimmerten“, steckt Dimitrij dem Mädchen zwischen die Zähne.

Dann zeigt er ihr, wofür er Nadel und Garn braucht: „Zusammen mit einer brennenden Kerze hielt er ihr einen kleinen Spiegel mit Holzgriff so zwischen die blau, violett und grüngelb verfärbten Innenseiten, dass sie alles sehen konnte. In ihren Därmen begann es zu rumoren, leise wimmernd schloss sie die Augen, und noch einmal bot er ihr von dem Schnaps an – den sie nun trank.“

Rothmann schreibt einzigartig über den Krieg

So schreibt Rothmann über den Krieg; er richtet den Scheinwerfer überall hin und spart doch manches aus. Das ist große Erzählkunst. Elisabeth wird „Die Nacht unterm Schnee“ hinter sich lassen, aber gezeichnet sein fürs Leben, und davon, wie kaputt gemacht sie innerlich wurde von den Traumata der Flucht, handelt der Roman hauptsächlich. Er ist der Abschluss der Kriegstrilogie, die 2015 mit dem in viele Sprachen übersetzten „Im Frühling sterben“ begann. Dort tauchen die Figuren erstmals auf, die hier die Hauptrolle spielen. Elisabeth, die Kieler Kellnerin, und der Melker Walter, der in „Im Frühling sterben“ blutjung an der Front war und dort, unter dramatischen Umständen, seinen Freund Fiete verlor.

Im neuen Roman ist der aus dem Ruhrgebiet stammende Walter, ein eher wortkarger, zurückhaltender Mann, auf einem Milchhof an der Schlei angestellt. Er arbeitet hart, selten fährt er zu seiner Verlobten nach Kiel. Die treibt es dort bisweilen allzu bunt. Elisabeth hat oft Männerbesuch, ist von einem unbändigen Lebenshunger getrieben. Leserin und Leser folgen ihr, unterbrochen von den Rückblenden auf die Tage der Flucht, über viele Jahre und schließlich Jahrzehnte, es sind jene, die wir die Nachkriegszeit nennen und in denen über die erlittenen Verletzungen so gut wie nicht gesprochen wurde.

Ihr Schicksal wird zum Teil des neuen Romans

Ralf Rothmann:  „Die Nacht unterm Schnee“, Suhrkamp, 304 Seiten, 24 Euro.
Ralf Rothmann: „Die Nacht unterm Schnee“, Suhrkamp, 304 Seiten, 24 Euro. © Suhrkamp Verlag

Sie habe bei Elisabeth das Gefühl, „dass sie eine Leerstelle mit sich herumtrug, ein tiefinneres Vakuum, aus dem das Echo ihrer frohgemuten Schlagermusik wie ein fernes, kaum hörbares Wehklagen widerhallte“. Sagt Luisa, aus deren Augen Elisabeths und Walters Geschicke in den Blick genommen werden. Luisa ist de Protagonistin des mittleren Romans der Trilogie, „Der Gott jenes Sommers“.

Kunstvoll webt Rothmann das Schicksal der nun jungen Frau in seinen neuen Roman ein, mit der wir zuvor noch in ihren Kinderjahren waren, in der sie die Härten der Zeit (von denen ein übergriffiger Schwager keineswegs die harmloseste war) erfuhr. In Kinderjahren an der Heimatfront in Norddeutschland, wo die Daheimgebliebenen, die Nazis und die Gleichgültigen, Feste feierten, während die Alliierten ihre Bomben auf den Aggressor warfen.

Elisabeth zieht aufs Land

In „Die Nacht unterm Schnee“ ist der Krieg (abzüglich der Rückblenden nach Pommern, zu den Flüchtlingstrecks) vorbei. Luisa erinnert sich als altgewordene ehemalige Bibliothekarin, die ihren Professor ehelichte und ein Kind von ihm bekam, an die so andere Freundin Elisabeth. Als sie schwanger wird, weiß Elisabeth, dass das wilde Leben, das „liederliche“ Leben, wie man es nannte, vorbei ist. Sie heiratet Walter und zieht zu ihm aufs Land. Es ist nicht das Leben, das sie führen wollte; bei der zweiten Schwangerschaft trinkt und raucht sie. Elisabeth beklagt ihr Schicksal, erst recht, als nach einer schweren Geburt die Tochter mit (harmlosen) Fehlbildungen zur Welt kommt.

Mit ruhiger Schreibhand und klaren, schönen Sätzen – er ist ein Meister darin – skizziert Rothmann das Milieu der einfachen Leute. Es ist alles sehr bescheiden: Zunächst Wohnhäuschen (und Kuhstall) auf dem Hof des Grundbesitzers, später dann die 50-Quadratmeter-Bleibe im Ruhrpott; die enge Tanzkneipe, in der Elisabeth sich verlustiert. Mit Wehmut sieht die Studentin Luisa, wie Walter, ein alter Schwarm von ihr, der mittlerweile als Bergmann einfährt, früh altert und jeden Tag zu kaputt ist, um den abermaligen Amüsierexzessen seiner Frau Einhalt zu gebieten. Wahrscheinlich toleriert er jene, weil er seine Ruhe haben will.

Rothmann zeigt die Wirkung von Traumata auf

Luisas Freundschaft zu Elisabeth und das Befremden ihr gegenüber gehören untrennbar zusammen. Luisa selbst, ihre sexuelle Erweckung durch einen älteren deutschitalienischen Arzt in Kiel, spielen in diesem virtuos komponierten Text auch eine Rolle. Rothmann zeigt, wie einschneidende Erlebnisse – wer hatte die nicht in der Kriegsgeneration? – über Jahrzehnte fortwirken. Wie, im Falle Luisas, verhältnismäßig klein der Aufwand ist, um zu vergessen – oder wie groß.

Indem er Elisabeths grauenhafte Vergewaltigungserlebnisse als Ursuppe ihrer späteren Genusssucht begreift, entschuldigt er ihr unmoralisches Verhalten. Rothmanns literarische Mittlerfigur Luisa begleitet Elisabeth und Walter bis in ihren frühen Tod um die 60. Sie sterben kurz nacheinander, dahingerafft durch den Verbrauch körperlicher Ressourcen, von Zigaretten und Alkohol, vom Leben, von der Arbeit und dem Vergessen.

Buchtipp: Ralf Rothmann ist einer der Besten

Luisa ist die zwischengeschaltete In­stanz, mit der sich Rothmann, der auch in seinen früheren, den Ruhrpott-Romanen („Milch und Kohle“, „Junges Licht“) seinen Eltern ein Denkmal setzte, der eigenen Herkunft nähert. Walter und Elisabeth sind seine Literatur gewordenen Eltern. Die Namen hat er aus dem echten Leben übernommen, manches andere auch und vieles aber auch nicht. Mit dem biografischen Untersatz seiner überwältigend gelungenen Trilogie nimmt er seinen Eltern nachträglich die typische Sprach­losigkeit.

Und stellt sich der Aufgabe vieler Nachgeborener, das gebrochene Leben der Altvorderen zu deuten. Über die Nachkriegszeit und die Ausläufer des deutschen Verhängnisses schreibt niemand so wie Ralf Rothmann. Das macht ihn zu einem unserer Besten.