Salzburg. „Jakob Lenz“ wurde 1979 in Hamburg uraufgeführt – und er ist immer noch so tragisch und verrückt. Bariton Nigl umarmte die Rolle.

Der „Lenz“ war wieder da, für einen Abend, und er ist immer noch so tragisch, packend, verrückt wie eh und je. Als dieses schrecklich eindringliche Stück im März 1979 erstmals ins Licht der Bühnenwelt geriet, war Wolfgang Rihm keine 30 Jahre jung, ein vor Selbstbewusstsein strotzender Nachwuchs-Komponist aus Karlsruhe. Stattliche 1,93 Meter hoch, sonniges Gemüt, „fröhliches Lachen und wirrer Lockenkopf“, so beschrieb ihn eine Kollegin, kurz bevor die Kammeroper „Jakob Lenz“ in der Opera stabile der Hamburger Staatsoper uraufgeführt wurde.

Der 75-minütige Einakter über Szenen aus dem Leben und vor allem dem Leiden eines romantischen Sturm-und-Drang-Dichters entwickelte sich schnell zu einem Publikumsliebling und trug konstant zur Prestige-Vermehrung bei, die den Vielschreiber Rihm zur internationalen Größe der Musikwelt werden ließ. Im Sommer 2022 feiern auch die Salzburger Festspiele den 70. Geburtstag Rihms, hier mit einer Hommage-Reihe, in der neben dem Symphoniker-Chefdirigenten Sylvain Cambreling und dem Klangforum Wien eine konzertante Aufführung des „Jakob Lenz“ auf der Gratulations-Liste.

Salzburger Festspiele: Standing ovations in Stadion-Lautstärke

Am Ende, nach Lenz’ finalen Zusammenbruch und seinem letzten Gestammel, hielt Bariton Georg Nigl, der rechtschaffen erschöpfte, fantastische Sänger der Titelpartie, seine Noten hoch in die Luft, als wären sie eine Trophäe oder ein kleines Heiligtum. Dirigent Maxime Pascal neben ihm war wie einmal gründlich durchs Wasser gezogen und wirkte stehend k.o.

Das Publikum im voll besetzten Großen Saal des Mozarteums – darunter auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen – feierte zunächst die Kollektivleistung des kleines Spezialisten-Ensembles „Le Balcon“ mit standing ovations und in Stadion-Lautstärke, bevor die Aufmerksamkeit wie durch Magnetkraft zum Parkettrand gezogen wurde.

Rihm in Begleitung des Festspiel-Intendanten

Zum leibhaftigen Wolfgang Rihm, der wegen einer Krankheit mitunter auf einen ungeliebten Rollstuhl angewiesen ist, ansonsten aber immer noch so fröhlich lachen kann, wie er es wohl als junger Mann getan haben mag, mit inzwischen grauen Locken, seinem Barrett und seinem Gehstock, in Begleitung des Festspiel-Intendanten Markus Hinterhäuser. Ein rührender, würdiger Anblick, der auch bewies: Das Stück ist mit ihm gealtert, deswegen aber gar nicht gestrig.

Rihm ist damit ein frühes Meisterwerk gelungen. Er hat nicht nur in der Tradition des „Wozzeck“ einem weiteren tragischen Loser ein Denkmal aus Tönen errichtet, er hat eine Krankenakten-Vertonung geschaffen, einen Blick in Seelenabgründe gewagt, die Tür in eine Welt aus Vorstellungen und Wahn geöffnet, die niemand freiwillig kennenlernen möchte.

Salzburger Festspiele: Bedrohliche Stimmung bei „Lenz“

Am Anfang: ein animalischer, tief durchlittener, schon unmenschlicher Schrei, in dem bereits alles Leid erahnbar ist, das Lenz’ Schicksal ab diesem Punkt verdüstern wird. Dass außer diesem Einzelgänger, der den Kontakt zur Wirklichkeit verliert, noch zwei weitere Figuren – ein Pfarrer und ein weiterer Dichter – in der Geschichte auftauchen, bleibt nebensächlich. Sie können ihm schon längst nicht mehr helfen, sind eher singende Requisiten für den steil abstürzenden Verlauf der Handlung.

Ein knappes Dutzend Instrumente genügten Rihm, um Klangflächen und Szenen-Illusionen mit packender Präzision zu vertonen. Nichts schlackert unnötig durchs Ungefähre, die Musik treibt die Kurzgeschichte unerbittlich voran, kommentiert und betont sie. Als Vorahnung der noch unausgereiften Handschrift schimmern stellenweise die Anspielungen und Aroma-Zitate durch, mit denen Rihm die Abstraktion seiner Ideen stilistisch bereichert: Hier ein bisschen Choral-Verwandtes, dort eine Spur Rezitativ-Cembalo oder ein kurzes sanftes Walzern, bevor die bedrohliche Grundstimmung wieder in den Vordergrund drängt.

Ein Miniatur-Kinderchor bleibt anderes Beiwerk, psychologisch interessanter sind die sechs inneren Stimmen, die aus Lenz’ Seele nach außen drängen und ihn nur noch weiter in die Verwirrung treiben. Gedankensplitter umtrudeln ihn wie Motten das Licht. Das gesamte Stück ist Lenz, der ganze Lenz und nichts als Lenz. Die instrumentale Begleitung skizziert den Charakter, begleitet seinen Selbstmordversuch, hilft ihm in die Zwangsjacke und ist auch noch bei dicht ihm, wenn er nur noch sein „… konsequent...“ stammeln kann.

Diese dramatische Erzählkraft ist so stark und so plastisch, dass es in keinem Moment eine tatsächliche Inszenierung mit Kulissen oder Kostümen braucht. Erst recht, wenn ein Charakter-Darsteller wie Nigl sich ohne Rücksicht auf Blessuren den emotionalen Strapazen dieser Partie aussetzt. Er quält sich durch Zeilen wie „Auf dieser Welt hab’ ich kein’ Freud’“, nutzt die gesamte Bandbreite vokaler Ausdrucksmöglichkeiten, um Lenz’ Einsamkeit und Verzweiflung Präsenz zu verleihen. Schafft es dabei aber auch immer wieder, jedes Wort, jede Silbe klar zu deklamieren. Weniger tapfere Interpreten müssen vor dieser Rolle zurückschrecken. Nigl umarmte sie, mit vollem Risiko.

Termine: Am 1.9. spielt das Cleveland Orchestra (Dirigent: Franz Welser-Möst) Rihms „Verwandlung 2 & 3“ in der Elbphilharmonie. Georg Nigl gastiert mit Liedern von Rihm, Beethoven und Schubert am 5.9. beim Musikfest Bremen sowie am 24. Oktober in der Elbphilharmonie.