Hamburg. Der Rapstar zum Anfassen bringt Witz, Ernst, Trauer und Blödsinn zusammen und begeistert 15.000 Besucher vor dem Volksparkstadion.

Alle mögen Marten. Marten Laciny, wie Marteria bürgerlich heißt, ist der Rapper, auf den sich unterschiedlichste Szenen einigen können: die Elektrofans (weil er sich vom Produzententeam The Krauts recht originelle Beats basteln lässt), die Radiohörer (wegen einer Split-Single mit den Toten Hosen), die Partycrowd und die Fußballfans (als Jugendlicher spielte Laciny als Rechtsverteidiger bei Hansa Rostock), die Indies (weil er das Macho-Gehabe im Hiphop durch Nachdenklichkeit und Ironie ersetzt hat).

Und trotzdem hält er weiter Kontakt zur harten Rapszene. Weswegen es auch nicht verwundert, dass der 39-Jährige am Sonnabend das Open-Air-Gelände vor dem Volksparkstadion in Hamburg auf seiner „Vollkontakt“-Tour ausverkaufen konnte. Den mag einfach jeder.

Marteria in Hamburg mit „Alle Hände in die Luft“-Anmache

Und weil jeder Marteria mag, eröffnet er das Konzert mit Hiphop für Leute, die eigentlich keinen Hiphop hören: „Marilyn“, mehr gesungen als gerappt, mit schlagerhaften Harmonien und Publikumsanimation in die Menge hinein. Über deren „Alle Hände in die Luft“-Anmache Marteria allerdings selbst grinst: Der weiß schon, was er machen muss, um 15.000 Besucher anzusprechen, der weiß aber auch, dass so ein Spiel im Grunde lächerlich ist.

Und er weiß, dass er es sich leisten kann, Haken zu schlagen – auf den Popappeal von „Marilyn“ folgt das Hardcore-Brett „Endboss“, dann das entspannte „Love, Peace and Happyness“. Druck machen, Druck rausnehmen.

Marteria kann sich in Hamburg Dicke-Hose-Geprahle locker leisten

Dass ihm in den Texten von Zeit zu Zeit Hiphop-Klischees unterlaufen – egal. „Eine Nacht mit mir heißt: zwei Wochen freinehmen“, tönt es großspurig in „Love, Peace & Happyness“, aber solches Dicke-Hose-Geprahle kann sich Marteria locker leisten, weil er es immer wieder mit seiner Verletzlichkeit und seinen Selbstzweifeln bricht. Diese Musik hat ihre Wurzeln im Rap, und in den Wurzeln sind auch noch Machotum und Kraftmeierei enthalten, aber was hier im glasklaren Sound zu hören ist, führt weiter: in eine musikalische Schönheit, die die alten Klischees bricht.

Entsprechend klingt eine Ansage wie „Wo sind die Mädels, Hamburg? Und wo sind meine Jungs?“ geschlechterpolitisch erst einmal etwas von gestern. Aber dann spielt die Band „Marteria Girl“ und von der Bühne wird der männliche Teil des Publikums zum Mitsingen aufgefordert – worauf auch Hoodie-tragende Jungsrapper „Ich bin ein Marteria Girl“ rufen, zum hübschen Madonna-Sample, was beweist, wie wenig Geschlechtergrenzen hier noch bedeuten. Anderes Beispiel: Im (theologisch etwas unterkomplexen) Sinnsucher-Song „OMG“ rappt Marteria „Fahr’ mit dem eigenen Wagen übern CSD / Schmeiß’ Gummis in die Menge und ruf’ Gay Okay!“ So etwas bekommen andere Rapper weniger elegant hin.

Marteria mit zitternde Stimme bei emotionaler Ballade

Im Mittelteil wird es dann plötzlich ernster. Das deutet sich schon mit „El Presidente“ an: Auf CD ist das ein originell um ein Fugees-Sample aufgebauter Partysong, der hier mit einer neuen Strophe plötzlich Krieg, Klimakatastrophe, Gewalt aufruft, bis zum Schlusswunsch: „Genieß’ deine Zeit bis zur Revolution!“ Die kommt gleich im Anschluss mit dem harschen Battletrack „Bengalische Tiger“, im Publikum leuchten Fackeln, die Rhythmen sägen sich aggressiv durch die Tanzenden und mit einem Mal ist hier gar nichts mehr lustig.

Und von diesem Punkt an kann man dann auch wirklich ans Eingemachte gehen. Die Ballade „DMT“ kommt zunächst etwas pastoral rüber, dann aber stellt man fest: Es geht um den Tod eines Freundes, die zitternde Stimme ist keine Pose, und als die letzten Akkorde ausklingen, während kurz „Für Thomas. Ruhe in Frieden“ auf der Videowand erscheint, steht nicht mehr Marteria auf der Bühne, sondern Marten Laciny, und der ist wirklich angefasst. So sehr, dass er gar nicht anders kann, er muss als Übersprungshandlung zum gnadenlosen Pop wechseln: „Aber jetzt ein bisschen Party, oder?“ Unbedingt. Druck rausnehmen, Druck machen.

Konzert in Hamburg: Marteria tanzt mit nacktem Oberkörper im Publikum

Nicht immer bekommt Marteria so gut die Kurve hin wie hier. Der Hansa-Fan bringt ein bisschen viel Fußballanalogien, und auch die Bekenntnise zu seiner Heimatstadt Rostock sind mit Songs wie dem chilligen „Strandkind“ und dem Möchtegern-Punkrocker „Scheiß Ossis“ womöglich zuviel des Guten. Aber: Solche Ungenauigkeiten lassen sich mit einem Grinsen ausbalancieren. „Ihr habt hier St. Pauli, Brasilien hat São Paulo“ stellt er die brasilianische Gastsängerin Odara Sol vor – und dann merkt er selbst, dass das ein Rohrkrepierer ist: „Guter Witz!“ Worauf die Beats wieder losballern können. Wer eine missglückte Moderation erkennt, dem verzeiht man vieles.

Gegen Ende stürzt der Auftritt in den Exzess. Marteria tanzt mit nacktem Oberkörper im Publikum, ein Rapstar zum Anfassen. Bier spritzt durch die Reihen, die Band spielt einen Kracher nach dem anderen, „Adrenalin“, „Lila Wolken“, „Kids (2 Finger am Kopf)“. Der Volkspark verwandelt sich in einen riesigen Moshpit, die Videowand (auf der das gesamte Konzert über beeindruckende State-of-the-Art-Visuals zu sehen waren) gibt noch einmal alles.

Wirkten Ansagen à la „Partystadt Hamburg!“ zunächst eher wie 08/15-Publikumsanmache, so geht es jetzt tatsächlich um Party, die nur kurz mit dem nachdenklichen „Niemand bringt Marten um“ noch einmal ausgebremst wird. Und schließlich: Formlosigkeit, Entgrenzung. 15.000 Zuschauer singen „Wir bleiben wach / bis die Wolken wieder lila sind“ –und weil man gerade ein Konzert erlebt hat, das sich Höhen und Tiefen traute, das immer wieder Gas gab, um gleich darauf radikal zu verlangsamen, das Witz, Ernst, Trauer und fröhlichen Blödsinn zusammenbrachte, denkt man: „Och, da mache ich mit!“