Hamburg. Bettina Baltschevs „Am Rande der Glückseligkeit“ führt an bekannte Strände Europas. Ein Sachbuch – nicht nur für den Urlaub.

Der Strand – seit jeher gehört er zu den menschlichen Sehnsuchtsorten. Am liebsten unberührt, paradiesisch, rein – so soll er sein. Und das Wasser am besten schön klar. Und das nicht nur jetzt, zur Urlaubszeit. Auch Bettina Baltschev mag das, kennt das Ganze aber auch anders.

Für die Autorin, 1973 in (Ost-)Berlin geboren und in Erfurt aufgewachsen, waren exotische Strände lange Zeit unerreichbar, sie kannte sie nur aus Büchern. Heute schreibt sie selbst Bücher, pendelt mittlerweile zwischen Leipzig und ihrer zweiten Heimat Amsterdam. Und in den Niederlanden, in Scheveningen, beginnt Baltschev auch ihre Reise zu verschiedenen Stränden Europas. „Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand“ ist trotzdem kein schlichtes Reisebuch. Vielmehr erkundet Bettina Baltschev die Kulturgeschichte und den Bedeutungswandel von europäischen Stränden vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Erinnerungen, Erfahrungen und Erwartungen, dieses Gefüge sieht sie in einem Strand.

Die Pier von Scheveningen mit dem markanten Riesenrad.
Die Pier von Scheveningen mit dem markanten Riesenrad. © imago images/ANP | imago stock

Buchkritik: Bettina Baltschev über acht Strände in acht Ländern

In diesem Frühjahr gehörte ihr Buch zu den acht nominierten für den Deutschen Sachbuchpreis. Nun, Bettina Baltschev hat ihn nicht gewonnen, bietet in „Am Rande der Glückseligkeit“ dennoch neue, ungewohnte Blicke. Die Grenzen zwischen Meer und Land scheinen zu verschwimmen. Von acht Stränden in acht Ländern aus unternimmt sie Exkursionen in die Gegenwart und in die Geschichte eines Sehnsuchtsortes, der für manche letzte Zuflucht ist. Immer wieder folgen bei ihr Abstecher zu Literatinnen und Künstlern, die sich vom Zauber des Strandes haben inspirieren lassen.

„Warum sitze ich so sorglos am Strand? Was ist eigentlich ein Strand?“, fragt sie sich, nachdem sie einem den breiten und flachen Strand Scheveningens mit der zweistöckigen Seebrücke und deren Riesenrad am Ende vor Augen geführt hat. Die Geschichte des Strandes, die „in der der Mensch sich in der Landschaft zeigt, ist wie überall viel älter“, konstatiert sie.

„Am Rande der Glückseligkeit“: Strand-Idylle? Ja und nein.

Besonders anschaulich wird das bei ihrem Besuch auf Hiddensee. Die Nachbarinsel von Rügen im Nordosten der Republik glich zu DDR-Zeiten einem Eisernen Vorhang. Der Strand diente damals als Außengrenze. Baltschev hat Hiddensee bewusst im Winter besucht, wenn sich die autofreie Insel mit ihren nur etwa 1000 Bewohnern vom alljährlichen sommerlichen Ansturm der Tagestouristen erholt.

Fast beiläufig, indes sehr genau beobachtet sie – mit Verweis auf den US-Fotografen Eliott Erwitt – frohe Hunde am Strand, um kurz darauf Menschen dabei zuzusehen, „wie sie langsam mit gesenktem Kopf ganz nahe am Wasser entlangwandern“. Den Schriftsteller Gerhart Hauptmann (1862–1946), der auf dem Inselfriedhof begraben liegt, und den vor 50 Jahren gestorbenen dänischen Stummfilmstar Asta Nielsen zu erwähnen, gebietet die Chronistinnen-Pflicht. Beiden sind auf Hiddensee eigene Museen gewidmet.

Baltschev thematisiert DDR

Immer wieder fügt Bettina Baltschev hier SED- und damit viel, manchmal etwas zu viel DDR-Geschichte in ihre Schilderungen ein. Derart umfangreich, dass die Autorin nach dem ganzen Norden, dem Sturm, dem heißen und dem Kalten Krieg den Süden sehen möchte und sich im nächsten Kapitel Ischia in Italien widmet – danach sogar Benidorm, jenem vom Massentourismus mit zahlreichen Hochhäusern geprägten Badeort an der spanischen Costa Blanca, der in den 1960er-Jahren noch ein malerisches Fischerdorf war.

Strände können eben immer auch und immer noch abgrenzen, das weist die Autorin eindringlich nach. War Hiddensee als Außengrenze der DDR mit allen Konsequenzen geschützt, findet sich in ihrem Buch als moderne Parallele dazu die griechische Insel Lesbos. „Dieser Strand hat sich in einen politischen Strandort verwandelt. Aber nicht, weil irgendeine Regierung das festgelegt hat, sondern weil dieser Strand der Strand war, wo sehr viele Geflüchtete ankamen und immer noch ankommen“, so Baltschev. Der Strand werde von Menschen erobert, die auch einen Sehnsuchtsort suchen – genauso wie die Menschen, die sich eigentlich am Strand erholen wollen. „So kommt da eine ganz merkwürdige Ambivalenz ins Spiel.“

Baltschevs Reflexion unserer Strandkultur

Baltschev reflektiert über (unsere) Strandkultur und kommt zu der Erkenntnis: Ein Leben ohne unsere Inbesitznahme von Stränden ist nicht mehr vorstellbar. Ob im Kapitel über das englische Seebad Brighton, das sie mit der Begegnung von einem angetrunkenen Mann am Eingang zum Palace Pier und der Nennung der „Stranduniform des 21. Jahrhunderts“ treffend klischeehaft beginnt: „Muskelshirt, Shorts und Flip-Flops“. Oder im Kapitel über das belgische Ostende, indem sie einen Sonnenuntergang schildert wie überall in Europa, wo der Strand in Richtung Westen ausgerichtet ist.

Bettina ­Baltschev: „Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand“, Berenberg-Verlag, 280 Seiten, 25 Euro.
Bettina ­Baltschev: „Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand“, Berenberg-Verlag, 280 Seiten, 25 Euro. © Berenberg Verlag GmbH | Berenberg Verlag GmbH

Bei all dem beobachtet sie die Orte und Landschaften mitsamt deren Menschen und beschreibt mal heiter, mal berührend, meist mit der Leichtigkeit eines angenehmen Sommerwindes von wahren und fiktiven, glücklichen und tragischen Momenten und Schicksalen am Strand.

Entlang der Küsten geht es mit Bettina Baltschev auch entlang sozialer Gefüge, entlang der Grenzen und des Militärs. Manches dreht sich bei ihr um die Klassengesellschaft und um die Freiheit. Dieser Blick ist neu und gewinnt eine erstaunliche Dimension, weil die Autorin in ihren Betrachtungen stilistisch fein Ländergrenzen überwindet. In einer Mischung aus Reportage, Kulturhistorie und mit vielen literarischen Zitaten weitet sie so den ­Horizont.

Für Bettina Baltschev zeigen Strände immer auch die Entwicklung der Menschheit. Früher habe es sich um einen Unort gehandelt, eine Grenze zum Meer, in dem manche Gefahren lauern. So gesehen sind Strände jeweils Orte der kulturellen Eroberung. Doch längst nicht überall ist die Glückseligkeit zu finden. Was der Mensch dort sucht und weshalb er das erhoffte Ziel nicht immer findet – dazu trägt Bettina Baltschevs hintergründiges Buch auch in diesem Sommer einige Erkenntnisse bei. Egal wo man es liest: auf der Strandliege bei Sonnenschein oder drinnen bei Sturm und Regen.